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Georges Canguilhem: Der Naturbegriff in der medizinischen Theorie und Praxis
Der Naturbegriff in der medizinischen Theorie und Praxis
(p. 13 – 28)

Abwarten und Handeln: zwei Seiten ärztlicher Kunst

Georges Canguilhem

Der Naturbegriff in der medizinischen Theorie und Praxis

Translated by Thomas Laugstien

in: Schriften zur Medizin, p. 13 – 28

Konnte das Verhältnis von Arzt und Patient je ein rein instrumentelles sein, in dem Ursache und Wirkung, Therapie und Ergebnis auf der gleichen Ebene, dem gleichen Niveau direkt miteinander verbunden sind, ohne eine diesem Verständnishorizont fremde Vermittlung? Die jahrhundertelange Berufung auf die Heilkräfte der Natur war und ist jedenfalls die Bezugnahme auf eine solche Vermittlung, die vielleicht durch die Geschichte hindurch davon zeugen soll, dass das Verhältnis von Arzt und Patient selten ein harmonisches war, in dem jeder der beiden Partner mit dem Verhalten des anderen restlos hätte zufrieden sein können.

Die konsequente Enthaltung von jeder Kurpfuscherei schließt nicht den Ehrgeiz aus – der nur die andere Seite der Berufsehre ist –, dem Kranken durch wirksame Eingriffe zu einer Linderung oder Genesung zu verhelfen, die er von selbst nicht erlangen kann. Dieser Ehrgeiz kann sogar die Vorstellung beinhalten, dass der kranke Organismus für den Arzt nur ein passives, gegenüber äußeren Behandlungen und Einwirkungen willfähriges Objekt ist. Ein schottischer Arzt, John Brown, der Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland und Italien sehr bekannt war und die Begriffe Sthenie und Asthenie erfand, glaubte das Gebot ärztlichen Tuns auf zwei Begriffe bringen zu können: »Entweder reizen oder schwächen, nie bloßer Zuschauer sein, noch auf die Kräfte der Natur vertrauen.« Das war die Konsequenz einer Auffassung des lebendigen Körpers, nach der »das Leben kein natürlicher, sondern ein erzwungener Zustand« ist, weil »wir für uns selbst nicht bestehen, sondern gänzlich von den erregenden Tätigkeiten abhängen« (Anfangsgründe der Medizin, 1806). Dem trägen Körper entspricht eine tätige Medizin.

Umgekehrt verbindet sich das Bewusstsein der Grenzen ärztlicher Macht mit jeder Auffassung des lebendigen Körpers, die ihm, in gleich welcher Form, die spontane Fähigkeit der Erhaltung seiner Struktur und der Regulation seiner Funktionen zuschreibt. Wenn der Organismus seine eigenen Abwehrkräfte hat, ist es ein hypothetisches Gebot, sowohl der Vorsicht als auch der Kunstfertigkeit, ihm zumindest vorläufig zu vertrauen. Dem dynamischen Körper entspricht eine abwartende Medizin. Der ärztliche Geist bestünde in der Geduld. Auch muss sich der Kranke in die Langmut fügen. Bordeu hat das sehr gut gesehen: »Diese Methode des Abwartens hat etwas Kaltes oder Nüchternes, auf das sich die Lebhaftigkeit der Kranken und Helfenden kaum einlassen wird. So waren die Abwartenden unter den Ärzten immer die Minderzahl, vor allem bei den Völkern, die von Natur lebhaft, ungeduldig und ängstlich sind.« (Recherches sur l’histoire de la médecine, 1768)

Nicht alle behandelten Kranken werden geheilt. Manche werden auch ohne Arzt gesund. Hippokrates,...

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Georges Canguilhem: Schriften zur Medizin

Georges Canguilhem

Schriften zur Medizin

Translated by Thomas Laugstien

with an afterword by Michael Hagner

Softcover, 144 pages

PDF, 144 pages

In den hier versammelten Essays entwickelt Georges Canguilhem eine Kritik der medizinischen Vernunft, die an Nüchternheit und Klarheit ihresgleichen sucht. Der Wissenschaftshistoriker, Mediziner und Philosoph steckt die Meilensteine des medizinischen Denkens von Hippokrates bis heute ab und stellt Betrachtungen darüber an, welche Auswirkungen die Konzeption der Medizin als Wissenschaft im Verhältnis zur Medizin als Heilkunst bzw. Pädagogik des Heilens hatte und welche Verfahren damit jeweils zusammenhängen. Darüber hinaus beleuchtet er das Verhältnis des Arztes zum Kranken, die Beziehung des Kranken zur Krankheit und deren jeweiliges Verhältnis zur Natur. Schließlich spekuliert über den Begriff der Gesundheit als das angebliche »Schweigen der Organe« sowie über die Fallstricke der Metaphern des Körpers. Die scheinbar banale Polarität von Krankheit und Gesundheit ruft philosophische Konzepte auf den Plan und erfordert nicht zuletzt ethische Überlegungen.