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»Der beste Reporter, der je für den New Yorker schrieb«


Der Calypso stammt aus Trinidad, einer gut zehn Kilometer vor der Küste Venezuelas gelegenen britischen Karibikinsel, von der die Welt außerdem Asphalt und Angostura bezieht. Geschrieben und gesungen werden diese Lieder von einer Reihe hochmütiger, trinkfester und auch sonst nicht gerade für vorbildlichen Lebenswandel bekannter Männer. Sie bezeichnen sich selbst als Calypsonians. In der Mehrzahl sind sie Neger. Stets auf der Suche nach einer Geschichte, die als Anregung für einen neuen Calypso dienen kann, ziehen sie mit der Gitarre unterm Arm durch die Rumschenken und chinesischen Lokale am Marine Square und in der Frederick Street von Port of Spain, der Hauptstadt Trinidads. Einige Calypsonians prahlen damit, dass Frauen sich darum streiten, sie aushalten zu dürfen. Die meisten von ihnen kennen die Inselgefängnisse auch von innen. Um sich von Normalsterblichen abzuheben, treten sie nicht unter ihren richtigen Namen auf, sondern schmücken sich mit Titeln wie Growler, Lord Executor, King Radio, Attila the Hun, Lion, Gorilla, Caresser, Senior Inventor und Lord Ziegfeld. Einige Calypsolieder beruhen auf Sensationsnachrichten, etwa einem Gattenmord, einem mit Schnappmessern ausgetragenen Streit zwischen zwei stadtbekannten Prostituierten oder dem Selbstmord einer liebestollen weißen Engländerin. In anderen geht es um abstraktere Themen wie Liebe, Ehre, die Vertreibung aus dem Paradies, die Vorzüge einer Ehe mit einer Frau, die hässlicher ist als man selbst, oder die Frage, ob ein Kater von Rum oder von Gin schlimmer ist. Wieder andere Calypsos sind Charakterstudien; dazu gehört »They Talk about Nora’s Badness«, in dem die Schwäche einer Nora mit folgendem Refrain beschrieben wird: »Sie geht ins Tanzlokal und trinkt Alkohol mit Peter und Paul.«


Einige Calypsosänger singen ein Patois aus Englisch, Spanisch, Französisch und Hindi-Wörtern, aber die meisten singen Englisch mit eigenartig entstelltem britischem Akzent. So wird »parrot« bei ihnen zu »pair-ott«, »temperament« zu »tem-pair-a-mint« und »hat« zu »hot«. Sie lieben pompöse Wendungen und hochtrabende Worte. Der Lion sagt zum Beispiel nicht »Hallo«, sondern »Ich achte die Erfüllung der Gepflogenheit und wünsche Ihnen guten Tag«. In den Ohren der britischen Kolonialherren klingen viele Calypso­texte obszön oder aufrührerisch, und manchmal werden Lieder verboten und die Sänger ins Gefängnis gesteckt. Angeblich aus diplomatischen Gründen hat die Kolonialregierung kurz vor dem Krieg einen anmaßenden Calypso mit dem Titel »Hitler Demands« verboten, in dem der Growler sang: »Hitler, Kumpel, mach mal halblang, sonst schmeißen wir dich raus aus Deutschland«. Mit »wir« meinte der Growler das British Empire.


Der umtriebigste aller Calypsosänger ist ein Mann, der sich Wilmoth Houdini nennt. Er hat...

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  • 20th century
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Joseph Mitchell: McSorley’s Wonderful Saloon

Joseph Mitchell

McSorley’s Wonderful Saloon
New Yorker Geschichten

Translated by Sven Koch and Andrea Stumpf

Hardcover, 416 pages

Ein Besuch auf einer Schildkrötenfarm, die einen Großteil des nordamerikanischen Bedarfs an Schildkrötenfleisch deckt; das Porträt einer seit 1854 bestehenden New Yorker Kneipe; ­schwindelfreie Indianer im Stahlhochbau; findige Nichtstuer, hochbegabte Kinder, Muschelfischer und bärtige Damen; eine Schilderung der Institution »Beefsteak«, einem Begängnis, bei dem es ums Vertilgen ungeheurer Mengen Fleisch geht; der fundamentalistische Straßenprediger, der das Telefon für seine Zwecke entdeckt hat, oder Captain Charleys Museum für intel­ligente Menschen: Joseph Mitchells Geschichten, Porträts, Reportagen und Erzählungen sind längst Klassiker amerikanischer Literatur.
 
Mitchell ist ein begnadeter Zuhörer, der vor allem die von ihm Porträtierten selbst zu Wort kommen lässt. In seinen »teilnehmenden Beobachtungen« verbindet sich Sachlichkeit mit literarischer Anschaulichkeit der Beschreibung, subjektivem Humor und scharfer Beobachtungsgabe. Immer wieder zieht es ihn zu den Käuzen, Exoten und Exzentrikern seiner Stadt. Mit Hingabe widmet er sich aussterbenden Milieus, Phänomenen, die alsbald der Vergangenheit angehören werden, und immer wieder dem pulsierenden Leben der Hafenstadt New York.

Joseph Mitchells legendäre Reportagen gehören zur Ge­schichte New Yorks, sie lesen sich wie Bohrungen in einer heute verschütteteten Zeitschicht jener Stadt, die mehr als alle anderen die Moderne verkörpert. Die hier versammelten Geschichten sind in den Jahren 1938 bis 1955 im Magazin New Yorker erschienen. Für das deutsche Publikum weitgehend Neuland, eröffnen sie dem Leser ungeahnte, beglückende literarische Entdeckungen.