Die Philosophin Gayatri Spivak, die einem internationalen Publikum durch ihren epochalen Essay »Can the Subaltern Speak?« bekannt wurde, gilt als eine der Gründungsfiguren postkolonialer Theorie. Der vorliegende Band stellt nun zum ersten Mal eine wenig beachtete, aber zentrale Dimension von Spivaks Denken in den Mittelpunkt: ihre Auseinandersetzung mit Marx. Über vier Jahrzehnte beschäftigte sich Spivak immer wieder intensiv mit den Schriften Marx’ und deren globalem Erbe. Die in diesem Band zum ersten Mal versammelten und durch Gespräche ergänzten Texte leisten eine »affirmative Sabotage« von Marx’ Denken. Sie geben Einblick in ein intimes Verhältnis zu Marx, dessen Text nicht nur Gegenstand der Kritik, sondern immer auch Begleiter von Spivaks eigenem Schreiben ist. In ihrem Beharren auf dem Aushalten von Widersprüchen und Ambiguitäten zeugen ihre kritischen Lektüren von einem Denken, das sich dem Begehren nach thesenhafter Vereinfachung verweigert und der Sehnsucht nach Eindeutigkeit und moralischer Selbstvergewisserung zuwiderläuft.
Gegen den intellektuellen Mainstream der Gegenwart, in dem einerseits die soziale Frage zusehends nationalisiert, andererseits globale Ungleichheit immer häufiger auf Kategorien der Identität reduziert wird, besteht Spivak auf der Komplexität verflochtener Herrschafts- und Unterdrückungsgeschichten, die eine saubere Einteilung in Täter und Opfer unterlaufen. So dreht sich Spivaks Denken nicht um einen vermeintlichen Gegensatz zwischen dem »globalen Süden« und dem »globalen Norden«, sondern richtet das Augenmerk auf den »Norden im Süden« und den »Süden im Norden«. Das Gespür für das, was sich vorgefertigten Einteilungen nicht fügt, verdankt Spivak nicht zuletzt Marx, dessen Text sie für unsere Gegenwart fortschreibt.