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Joseph Mitchell für die Westentasche

Joseph Mitchell

Old Mr. Flood

Translated by Sven Koch and Andrea Stumpf

in: Old Mr. Flood. Geschichten von Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt, p. 11 – 42

Mein Bekannter Mr. Hugh G. Flood, ein zäher, dreiundneunzigjähriger ehe­ma­liger Abbruchunternehmer mit ­schottisch-­­irischen Wurzeln, erklärt gerne, dass er felsenfest entschlossen ist, bis zum Nachmittag des 27. Juli 1965 zu leben, wenn er hundertfünfzehn Jahre alt wird. »Mehr will ich gar nicht«, sagt er. »Ich will nur hundertfünfzehn werden. Das reicht mir.« Mr. Flood ist klein und runzelig. Seine eisblauen Augen sind wachsam und sein Gesicht ist rot, knochig und glatt­rasiert. Er ist altmodisch gekleidet. Für gewöhnlich trägt er einen hohen steifen Kragen, ein rot-weiß gestreiftes Hemd, einen Anzug aus Wollserge und eine Melone. Über seiner Weste hängt eine silberne Uhrkette. Am Revers steckt eine Blume. Er bewohnt ein Zimmer im Hartford House, einem verschlafenen Hafenhotel in der Pearl Street Nr. 309, und immer wenn ich in der Nähe des Fulton Fish Market bin, schaue ich dort vorbei, um zu sehen, ob er noch lebt.


Viele alte Leute söhnen sich mit der Gewissheit des Todes aus und werden gelassen; Mr. Flood nicht. Dafür gibt es drei Gründe. Erstens lebt er sehr gern. Zweitens entstammt er einer alten ­Baptistenfamilie und hat eine nagende Angst vor dem Jenseits, die nicht besser wird durch den Umstand, dass ihm die biblischen Schilderungen des Himmels ebenso bedrohlich erscheinen wie die der Hölle. »Ich will eigentlich weder dahin noch dorthin«, sagt er. Er grübelt oft über Religion und liest so gut wie jeden Tag ein Kapitel aus der Bibel. Dennoch geht er nur am Ostersonntag in die Kirche. An diesem Tag trinkt er zum Frühstück mehrere Scotch, steigt dann in ein Taxi und fährt zu einer Baptistenkirche in Chelsea. Danach ist er mindestens eine Woche lang bedrückt und schweigsam. »Ich bin ein gottesfürchtiger Mensch«, sagt er, »und ich glaube an Jesus Christus, gekreuzigt, gestorben und begraben, auferstanden von den Toten und aufgefahren gen Himmel, aber mehr als eine Predigt im Jahr ertrag ich nicht.« Drittens ist er Ernährungstheoretiker – er nennt sich selbst Fischköstler – und fühlt sich verpflichtet, zur Bestätigung seiner Theorie ein spektakuläres Alter zu erreichen. Er ist überzeugt, dass das Essen von Fleisch und Gemüse das Leben verkürzt, und behauptet, das einzig vernünftige Nahrungsmittel für Menschen, ­insbesondere für ­Menschen, die hundertfünfzehn Jahre alt werden wollen, sei Fisch.


Mr. Flood isst Fisch und Schalentiere nicht nur gern, er hält sie auch für ein Lebenselixier. »Wenn ich einen Hummer oder so einen zarten Tintenfisch von der Westküste verdrückt hab«, sagt er, »fühl ich mich, als hätt ich vom Jungbrunnen getrunken.«...

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Joseph Mitchell: Old Mr. Flood

Joseph Mitchell

Old Mr. Flood
Geschichten von Fischessen, Whiskey, Tod und Wiedergeburt

Translated by Sven Koch and Andrea Stumpf

Hardcover, 160 pages

Der dreiundneunzigjährige Hugh G. Flood, pensionierter Abbruchunternehmer mit schottisch-irischen Wurzeln, gedenkt mit einer Diät aus Fisch und anderem Meeresgetier, Whiskey und der Luft des New Yorker Hafens 115 Jahre alt zu werden. Die drei Geschichten, die Joseph Mitchell diesem halb erdichteten, halb wahren Sonderling gewidmet hat, sind legendär: In der Redaktion des »New Yorker« musste jeder Neuankömmling sie durcharbeiten. Entstanden sind sie Mitte der 1940er Jahre, und in diesem kürzesten Buch von Joseph Mitchell ist im Kleinen alles enthalten, was seine Reportagen und Porträts allgemein auszeichnet: unvergessliche Charaktere, liebevoll, ungeheuer lebendig und mit Galgenhumor beschrieben und zugleich von einer Intensität, die ihresgleichen sucht. Mit »Old Mr. Flood« hat Mitchell dem versunkenen Fulton Fish Market und seinen Hafenarbeitern, Köchen und Fischhändlern ein Denkmal gesetzt. Ein gefundenes Fressen für New-York-Liebhaber, Flaneure und alle Esslustigen.