Nach ihrem Regiedebut Out Of Focus (2014) und ihrem mehrfach ausgezeichneten Another Year (2016), einem 3-stündigen Film über 13 Abendessen einer migrantischen Arbeiterfamilie in China, hat die chinesische Dokumentarfilmerin und Mitgründerin der Produktionsfirma Burn The Film Shengze Zhu für ihren neuesten Film Present.Perfect. hunderte Stunden mit Menschen im Livestream verbracht, diese aufgenommen und daraus eine Narration in vier Kapiteln erschaffen, ohne dem gefilmten Material etwas hinzuzufügen. Die Protagonisten des Films erzählen von ihrem Alltag, chatten mit ihren Followern, zeigen ihr Leben: darunter eine Näherin, die in einer Textilfabrik Unterwäsche zusammennäht, ein Unfallopfer, dessen Gesicht bei einem Brand entstellt wurde, ein Dreißigjähriger, der immer noch aussieht wie ein 12-jähriger Junge. DIAPHANES spricht mit Shengze Zhu über die Entstehung ihres beim International Film Festival Rotterdam 2019 mit dem Tiger Award ausgezeichneten Films, über die Livestreaming-Industrie in China, über die Einsamkeit ihrer Protagonisten und über die sozialen Implikationen dieser in China boomenden Kommunikationsform.
Shengze, beschreiben Sie doch bitte kurz das Phänomen der Livestreaming-Sites in China. Wann hat das angefangen, wie verlief die Entwicklung? Und wie ist die gegenwärtige Situation?
Livestreaming ist ein relativ neues Medium. Noch 2010, 2011 gab es das in China fast gar nicht. Aber in den letzten paar Jahren ist es zu einer der profitabelsten Branchen überhaupt geworden. Nach dem Bericht einer staatlichen Agentur betrugen die Livestreaming-Umsätze in China im Jahr 2017 30,45 Milliarden Yuan (das sind etwa 4,76 Milliarden US-Dollar), und es gab mehr als 400 Millionen aktive Nutzer.
Das Jahr 2016 gilt allgemein als das Jahr Null für den Livestreaming-Hype. Einer unvollständigen Statistik zufolge bo- ten 2016 in China mehr als 300 Firmen Online-Livestream-Plattformen an. Zwar ist der Livestreaming-Sektor seither schwindelerregend schnell gewachsen, dabei sind aber auch Probleme wie das Streamen obszöner, gewalttätiger oder anderer unangemessener Inhalte zutage getreten. Außerdem hat es durch seine Möglichkeit zur Verbreitung anonymer, unregulierter oder usergenerierter Inhalte die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich gezogen. Ende 2016 trat eine Reihe von Regularien und Gesetzen in Kraft, die im Cyberspace für Ordnung sorgen und Netzsicherheitsstandards setzen sollten. Auch wenn Livestreamer ihre Online-Rolle selbst bestimmen können, sind sie nun verpflichtet, den Livestream-Account mit ihrem Klarnamen und ihrer Personalausweisnummer zu registrieren, und ihr Onlineverhalten unterliegt strengen Regeln.
Livestreaming zählt zu den populärsten sozialen Medien in China, und »Livestreamer« gilt inzwischen vielerorts als normaler Beruf. Zum einen hat es gewaltige Umsätze produziert und eine Menge Internetstars hervorgebracht, zum anderen stellt...