Austauschbarkeit
Translated by Johanna-Charlotte Horst, Vera Kaulbarsch, Elias Kreuzmair and Léa Kuhn
PDF, 14 pages
Englisch: Exchangeability; Französisch: Échangeabilité;
Italienisch: Intercambiabilità, Portugiesisch: Intercambiabilidade;
Spanisch: Intercambiabilidad.
Korrelat:
Gesetz des Tauschwerts; Humankapital; Prostitution; Selbstmanagement; Student-Kunde (oder Der Student als Kunde)
Im Gedenken an Albert Ayme,
der unerschütterlichen künstlerischen Verantwortung
1. Die Schlagwörter »Bologna 1999«, »Lissabon 2000« sowie »Göteborg 2009« und »Strategie Europa 2020« bezeichnen Meilensteine einer Offensive des liberalen Kapitalismus in seinem kognitiven Stadium. Dieses ist erreicht, wenn Wissen zu dem »Rohstoff« wird, den das System benötigt, um seine Leistungen hervorzubringen, seine ökonomische Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und seinen Mehrwert zu steigern. Anders gesagt, wenn Wissen zum Einsatz in einem Interessenskrieg aller gegen alle wird.
2. Diese Offensive etabliert auf europäischer sowie weltweiter Ebene Schritt für Schritt eine neue Form der Systemregulierung, die auf der »Valorisierung des Wissens als Ware«, auf dessen Herstellung, Übermittlung und Anwendung gründet. Daher rührt jene berühmte »Wissensökonomie«, die von den internationalen Organisationen, den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, der OECD, dem European Round Table of Industrialists und der Weltbank aufgebaut und befördert wird – in einem Wort: der besagte »↑ Bologna-Prozess«. Seit zwei Jahrzehnten wird daran gearbeitet, mit allen Mitteln das Gesetz des Tauschwertes (↑ Leistungspunkte/ECTS) auf jene Orte auszudehnen, an denen Wissen programmatisch Gestalt annimmt und vermittelt wird: An der Universität und in den Netzwerken von Instituten, Zweigstellen und Forschungszentren nimmt das Gesetz des Tauschwertes immer mehr Raum ein. Allein hierin liegt der ganze Sinn der Neuerungen, die an diesen Orten stattfinden: die Reform der universitären Abläufe in Europa, die mit der Auferlegung neuer Rhythmen verbunden ist (wie in einer Fabrik werden Studenten zu Kunden und anschließend zu Diplomierten gemacht); die sogenannte »Autonomie der französischen Universitäten« (auf Manager-Neusprech); das »neue Management« und die neuen »Lenkungsformen« der Universitäten mit ihrer Ideologie von »Evaluierung« und »Exzellenz« und der Einrichtung sogenannter »Leuchttürme der Exzellenz«; das neue Zeitregime und die Bevorzugung der »professionellen« Spezialisierung, die auf die Interessen von Unternehmen reagieren (↑ Employability), usw. Die Kräfte des Geistes – die Neigung zu forschen und zu lernen, zu experimentieren und zu erfinden, sich gleichermaßen in Gedankengebäuden und im praktischen Leben zurechtzufinden – sollen zu größter Leistungsfähigkeit mobilisiert werden.
3. Was seit zwei Jahrzehnten »Humankapital« (Erzeuger von Gewinnen), »Wissenskapital«, »intellektuelles Kapital«, »Expertise«, »Evaluierung«, »Benchmarking«, »Talentmanagement«, »Wissensverwaltung« etc. genannt wird, ist Teil dieser Offensive. Es geht darum, das Gesetz des Tausches und der kalkulierenden Zeitnutzung auf alle Aktivitäten des Geistes auszuweiten, gar auf alle Bereiche der Existenz: auf Wissen, Information, Sprache, Kultur, Körper und Psyche. In diesem Prozess läuft der Lebende selbst Gefahr, ebenfalls als Kapital bestimmt zu werden: darauf reduziert, Mittel oder »Ressource« zu sein im Dienst der techno-wissenschaftlichen Entwicklung und des ökonomischen Wettbewerbs. Und diese Logik nimmt sogar die Frage nach dem Sinn und nach der letzten Bedeutung des menschlichen Lebens ein, wobei die Frage selbst vergessen, ab jetzt ausgeschlossen, das heißt verformt, in den Dienst der Interessen des Kapitals gestellt wird. Bestätigt wird dies durch den heutigen Umgang mit der Verunsicherung über die Frage, wie man leben soll, die auch Daseinsberechtigung oder Ethik genannt wird. Die Lexik und Syntax ihres Sinnes und ihrer praktischen Bedeutung sind aber in dem Moment entleert, da sie in der Sprache des Tauschwertes, der heute einzigen und weltweit gesprochenen Sprache, wieder aufgegriffen werden: »persönliches Projekt«, »Selbstkenntnis«, »Verbesserung der eigenen Fähigkeiten« (↑ Schlüsselqualifikationen), »persönliche Entwicklung«, »Selbstinvestment« (auf einen »Rückfluss des Investierten« zählend)…
4. Und dennoch: Die Welt der totalen Austauschbarkeit lässt einen offenen Rest, der ihr entgeht und den sie letztlich vergessen macht. Denn das Gesetz des Wertes, dem gemäß sich das System entwickelt, vermag mit seinem alleinigen Kriterium des Gewinns (überall und zu jeder Zeit das Kosten-Nutzen-Verhältnis zu optimieren) weder als Ersatz für einen generellen Sinn des Lebens noch des Geistes zu dienen. Es erlaubt insbesondere kein Urteil über das Wesen des Rechts oder des wirklichen Wertes eines individuellen oder kollektiven Lebens. Es erlaubt nicht einmal, die existentielle Sorge zu hören, die fragt: Wie soll man leben, warum? Nun steht diese Frage, die über das gegenwärtige System der Macht und der totalen Austauschbarkeit hinausreicht, wiederum im Zentrum einer Kultur des Geistes, der cultura animi, die uns über die Römer und die studia humanitatis aus der griechischen Antike überliefert ist. (Diese lange Tradition der Erfahrung und Entwicklung in den Lebenskünsten ist bei Weitem kein Privileg des Okzidents. Man müsste vielmehr zur Kenntnis nehmen, dass die Alten dem Orient näher waren, als es heute unsere Zeitgenossen sind). Es ist diese »Kultur der Seele«, entworfen als eine Praxis, als eine Arbeit am Selbst, die Kant einige Jahrhunderte nach Petrarca und Erasmus in seiner Kritik der Urteilskraft definieren und ausarbeiten wird als Empfänglichkeit gegenüber den Ideen und als »Vermögen, […] sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen.«1
5. Dies erfordert drei Bemerkungen in Bezug auf das, was uns hier interessiert. Erstens. In der Sprache der Kritik sind die Ideen Begriffe der Vernunft, welche die Begrenzungen unserer Erfahrung übersteigen. Das Gerechte, das Gute, Zwecke und Menschlichkeit in ihrer Bestimmung oder letzten Bedeutung sind Ideen; diese haben keine kognitive Funktion (sie sind keine Begriffe des Verstandes, sie beschreiben keine Realität), sondern allein eine regulative; in dieser Hinsicht sind sie unerlässlich für eine praktische Orientierung, folglich für die ethische, politische und historische Beunruhigung, von der wir sprechen. Zweitens. Die Ideen unterhalten per definitionem eine bevorzugte Verbindung zu dem, was man einst die »Werke des Geistes« nannte: die Werke der Kunst, des Schreibens, des Denkens. (Es ist diese Verbindung, deren Ausarbeitung sich die Kritik der Urteilskraft übrigens zweimal wieder annimmt, innerhalb der Diskussion des »Ästhetischen« in den Analysen des Schönen und des Erhabenen.) Die Werke sind befähigt, die Präsenz einer Idee in Formen (Farben, Klängen, Wörtern) erahnen oder fühlen zu lassen, die jegliche Repräsentation übersteigt, zum Beispiel und ganz besonders diejenige der letztgültigen Bedeutung der Existenz oder der Welt. Das ist zum Beispiel der Einsatz des Bildungsromans oder in einem weiteren Sinne des »Schreibens des Selbst« und ihrer Funktion der Selbstbildung. Drittens. Die Werke des Geistes mit ihrer Aufgabe, die nicht darstellbaren (nicht logisch artikulierbaren oder sinnlich »zeigbaren«) Ideen »darzustellen«, befinden sich im Zentrum des Untersuchungs- und Lehrfeldes, das in der modernen Universität all jene Disziplinen umfasst, die man unter dem Begriff der Humanités fassen kann (in erster Linie die Literatur, die Künste, die Philosophie, die Ästhetik, die Kritik, die Psychoanalyse, aber auch die Geschichte, die Ethnologie und in einer allgemeinen Hinsicht die geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen; schematisch gesprochen: das, was zu Diltheys Zeiten als »Geisteswissenschaften« bezeichnet wurde. Die Humanities der angelsächsischen Universität, die das zusammenfassen, was in Frankreich les lettres und sciences humaines et sociales genannt wird, entsprechen eher dem, worum es hier unter dem Begriff der heutigen Humanités gehen soll).2 Dieses Feld der gegenwärtigen Humanités steckt innerhalb der Universität jenen Bereich von Aktivitäten, Forschung und Lehre ab, der als unabgeschlossen, »nicht adaptativ« (Jean Laplanche), kritisch, dysfunktional, nicht zweckorientiert und damit im eigentlichen Sinn autonom (autarkeis) beschrieben werden kann. Dieser Bereich konnte als der eigentliche Kern dessen bestimmt werden, was Universität genannt wird.3 Als eben solcher wird dieser Bereich nun zum Schauplatz, auf dem sich in exemplarischer und entscheidender Weise der Krieg zwischen der Offensive des »Bologna-Prozesses« und dem Prinzip der Universität abspielt. Es ist ein Widerstreit zwischen dem hegemonialen Gesetz des Tausches und der den Werken des Geistes eigenen Seinsbestimmung, zwischen dem liberalen Ethos der Leistungssteigerung und des Wettbewerbs auf der einen und der ethischen Sorge um die Zwecke und um die letztgültige Bedeutung auf der anderen Seite.
6. Angesichts dieses Angriffs und dieses Widerstreits soll hier kurz auf das »Lehrverhältnis« eingegangen werden. Wir betrachten es, wie es sich vor allem innerhalb der Humanités gestaltet, in Auseinandersetzung mit der Lektüre und Analyse von Werken des Geistes und ihres »ethopoetischen« Einsatzes: der Bildung des Ethos, der Selbstbildung. In diesem Sinne entstammt das Lehrverhältnis der grundlegenden Bildungsbestimmung der »universitas der Lehrenden und Lernenden«. Wenn man doch nur anerkennen würde, dass dem Lehrverhältnis vor aller Vermittlung technischer und professioneller Kompetenzen die vorrangige Aufgabe zukommt, die Bildung des Geistes, ja der gesamten Person zu ermöglichen! Durch diese Bildung allein kann der Mensch menschlich werden, das heißt kurz gesagt, in der Lage sein, die Frage zu erarbeiten, wie man leben soll und was ein Leben wert wäre.4 Zunächst soll das Lehrverhältnis in seinen allgemeinen Zügen bestimmt werden, um dann zu untersuchen, was mit diesem geschieht, sobald es zur Zielscheibe der liberalen »kognitiven« Offensive wird. Dieses Verhältnis wurde in Frankreich seit den 1960er Jahren zu einem andauernden Gegenstand der Forschung und Lehre (und der »Lehrverhältnisse«) von Hadot und Foucault, aber auch von Lacan, Laplanche, Derrida, Lyotard und Barthes. Dieses Nachdenken und diese Praxis haben dadurch auf ihre Weise die philosophischen, existentiellen und ethopoetischen Mittel der Antike reaktualisiert. Da diese zugleich am Ursprung der Universität stehen, kann man sagen, dass sie auf wertvolle Weise zur Anamnese des Prinzips Universität beigetragen haben.
7. Wir gehen hier vom griechischen Schema aus, der Matrix des typischen Lehrverhältnisses, wie es von Platon bestimmt wurde, bevor es eine lange Reihe von Verwandlungen erfahren hat, von der cultura animi zu den Freien Künsten und den studia humanitatis. Worin besteht dieses Lehrverhältnis in nuce?
Erstens. Zuerst aus einer Form der Unterweisung: Ein »Lehrender« befasst sich nicht damit, einem »Lernenden« ein schon feststehendes Wissen zu vermitteln, sondern ihn zum Sinn einer »Lebenskunst«, eines Ethos zu führen, das es auszuarbeiten und zu leben gilt. Das Verhältnis ist also weniger von einem konzeptuellen System abhängig, von einem theoretischen Diskurs, den es zu lehren gilt, als von einer Einübung, einer Praxis des Selbst, mit der man sich in actum vertraut machen muss. Die Unterweisung führt so zur berühmten tekhnè, der Arbeit am Selbst – inklusive (wir werden das hier genauer ausführen) der Arbeit an dem, was am Selbst anders ist als das Selbst. Der generelle Einsatz besteht darin, jemand anderem zu erlauben, die Mittel zu finden, um die Form seiner eigenen Lebensführung und seines eigenen Lebens zu erarbeiten. Dieser praktische, ethopoetische Einsatz zeigt schon, dass wir uns in der Unterweisung nicht durchweg in der Ordnung des Mitteilbaren, Übertragbaren befinden. Sokrates sagt im Laufe des Symposion zu Agathon: In diesen Dingen gibt es kein »Umfüllen« eines Geistes in einen anderen.
Zweitens. Diese Anamnese induziert eine Umformung der Sichtweise des Gesprächspartners: eine Umwertung. Sie impliziert einen »ursprünglichen« Moment der Verwirrung, der Destabilisierung des Subjekts, der Krise, der ausreicht, um von sich selbst und seinen Werten, seinen Identifikationen, seinen ohne Prüfung angenommenen Meinungen Abstand zu nehmen. Dieser Moment reicht möglicherweise gar aus, um die eigenen Ich-Bildungen (wie wir heute sagen), die eigene Art zu sehen, zu handeln und zu leben noch einmal in Frage zu stellen. Denn dann wird sich das Subjekt bewusst, dass es nicht weiß, warum es so handelt, wie es handelt; es empfindet sich als unfähig, eine Erklärung für sich selbst und für die Art, wie es lebt, zu geben. Es erprobt seine Leere, seinen Mangel, die Abwesenheit einer Daseinsberechtigung und ist gezwungen zuzugeben, dass es grundlegend, existentiell entmachtet ist. Es erfährt so das lebendige Problem, dass es für sich ist und wird dahin geleitet, sich um seine Geschicke zu kümmern und muss eine Art des Lebens suchen, die es wert ist, gelebt zu werden. Diese Hinwendung zu sich (epistrophe eis heauton), zur Arbeit an sich, ist das praktische Wesen der Unterweisung.
Drittens. Dies geschieht grundlegend durch die Arbeit mit und über die Sprache – den Dialog, die Lektüre, das Schreiben, das Zuhören, das Logbuch (die hupomnemata der Antike) – beziehungsweise über und sogar gegen die Grenzen der Sprache, die schließlich ungeeignet ist, einen letzten Sinn mitzuteilen, eine Erfahrung dessen zu übermitteln, was es bedeutet zu existieren.5 Hier sind wir im Herzen der Praxis der Kunstwerke, des Denkens und des Schreibens angekommen, deren Wahrnehmung unsere Fähigkeit und unsere Empfänglichkeit für die Ideen steigern soll.
Viertens. Die Unterweisung ist folglich eine Psychagogie: die Kunst, die Seele durch das Sprechen zu führen (Phaidros, 261a). Man muss jemand anderen in der Bewegung unterstützen, die darin besteht, sich der »schlimmsten Lage«, was dies für einen Menschen auch sein mag, zu entreißen: der des Ursprungszustands der stultitia, der »Unvernunft«, die in mangelndem Urteilsvermögen, in Inkonsequenz, Irrtum, Zerstreuung besteht. Heute würden wir sagen: die Verunsicherung, die Kraftlosigkeit, die Daseinsmüdigkeit, die Depression. Es geht darum, dem anderen zu helfen, da herauszukommen, educere, hin zur Ausarbeitung einer Art zu leben, so wie man es muss, hin zu einem neuen, dauerhaften Verhältnis des Selbst zu sich selbst und zu dem, was im Selbst das Andere des Selbst ist.
Fünftens. Auf diese Weise enthält die Unterweisung eine »therapeutische« Dimension, im Sinn einer therapheia der Seele (therapeuein tên psukhên). Ein Seminar, eine Unterweisung, sagt Epiktet, ist ein iatreion, ein Dispensarium der Seele (wie es Wittgenstein Mitte des 20. Jahrhunderts wieder sagen wird).6
Sechstens. Das erfordert auf beiden Seiten, vom Lehrenden und vom Lernenden, eine große affektive Investition an Freundschaft, an Vertrauen, an Begehren: Eros ist in jedem Lehrverhältnis enthalten, der also das Wissen, das Begehren und das Subjekt, dem unterstellt wird zu wissen, was das Begehren heißt, bindet – was man heute die Übertragung (und die Gegen-Übertragung) nennt.
Siebtens. Schlussendlich ist die Unterweisung eine Kunst, die vor allem erfordert, dass man sich Zeit nimmt, dass man langsam wird, geleitet von der Weisheit, die lehrt, dass die Kunst des Sprachschmieds »Nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht«, nach dem Ausspruch Nietzsches in der Morgenröthe, dessen Maxime der Kunst des lento sich perfekt auf jedes Verhältnis der Unterweisung anwenden lässt: »Nichts mehr zu schreiben [zu lesen, zu lehren], womit nicht jede Art Mensch, die ›Eile hat‹, zur Verzweiflung gebracht wird.«7
8. Das Eindringen des Tauschgesetzes ins Innere des Lehrverhältnisses, wie wir es charakterisiert haben, ruiniert dieses von Grund auf. Es verwandelt dieses Verhältnis in eine Beziehung des Austausches, in der der Lehrende ein »Servicedienstleister« wird (wie man es bei der OECD und bei den europäischen Arbeitgeberorganisationen nennt) und der Student sein »Kunde«. Das ausgetauschte »Ding« (das Wissen, die Information), objektiviert, quantifiziert, verbucht und bewertet durch die credit points (↑ Leistungspunkte/ECTS), bleibt den »Austauschpartnern« äußerlich. Jene sind nicht »subjektiv« in diesem Verhältnis miteinbegriffen, sie setzen die Beziehung zwischen dem Selbst und sich selbst dabei nicht ein, bringen sie nicht zum Arbeiten. Die »Interaktion« hat also keine Auswirkungen auf das Ethos der Subjekte, sie verändert nichts an ihrer Daseinsweise.
Durchdrungen vom »Wert des Wissens«, macht sich der Student als Kunde zum Käufer, ein kleines herumlaufendes »Humankapital«, regiert von der Rationalität eines Wirtschaftssubjekts, Konsument von Ausbildungskapital. (Heutzutage wird jedes Individuum »sein eigener Geschäftsführer«, Manager seines Humankapitals, so erklären es die Personalvorstände, ohne zu bemerken, dass sie gerade die erschreckendsten Beschreibungen aus Minima Moralia in die Realität überführen.) Die »Ausbildung« ist seither eine Investition in Wissenskapital, bei dem die Zeit normalerweise die entscheidende Variable ist – die Investitionskosten sind proportional zur Dauer der Ausbildung. Es braucht also das Angebot schneller, beschleunigter, »intensiver« Ausbildungen; begabt sein, heißt schneller sein zu können (Gary Becker). Wie viel Zeit bleibt unter diesen Bedingungen für die »Kultur der Seele«, die ein Verhältnis der Unterweisung immer erfordert?
Das Eindringen des Tauschgesetzes unterspült die Bedingungen der Möglichkeit der Unterweisung selbst, also die Infragestellung des Selbst und die Veränderung des Ethos. Es verunmöglicht den Bezug zur von ihr erforderten Zeit, einschließlich der Übertragungs-Investition in Affekt und Begehren, die diese benötigt. Es zielt sogar darauf ab, alles auszulöschen bis hin zum Verlangen nach Unterweisung, nach Hinterfragen, nach Veränderung, alles auszulöschen bis hin zur Unsicherheit in Bezug auf die Frage »Wie leben?«, die man möglicherweise noch empfinden könnte. Der Rechtsanspruch der Frage nach dem Sinn verjährt. Man hat sich nicht mehr darum zu sorgen, was man wird oder werden sollte; man hat sich nur um Strategien des Austausches von Nachrichten, Waren zu kümmern – daraus besteht das Leben heute.
9. Der Partnerschaft »Dienstleister/Kunde«, die heute vom »↑ Bologna-Prozess« unter dem Deckmantel der Pädagogik befördert wird, könnte man geneigt sein, das prototypische Lehrverhältnis schlechthin gegenüber zu stellen, jenes zwischen Sokrates und Alkibiades. Es kommt jedoch darauf an, diese Gegenüberstellung etwas genauer zu fassen. Es ist wahr, dass Alkibiades der »Schwärmerei der Philosophie« ausgeliefert ist (»Ich wurde getroffen und gebissen von der Rede der Philosophie […], angesteckt vom philosophischen Wahn und den dionysischen Umzügen« [Übersetzung P.P.], tês philosophou manias te kai Bakcheias, Symposion, 218a-b). Seine Involviertheit in die Beziehung mit Sokrates schreibt sich vollständig in die Unterweisung ein. Es handelt sich natürlich um etwas ganz anderes als um die instrumentale, konsumentenhafte, vollends äußerliche Beziehung, die ein heutiger Student mit einem »Service« des Lehrbetriebs unterhält. Es bleibt nichtsdestotrotz dabei, dass Alkibiades Sokrates einen Handel vorschlägt: den Tausch seiner jugendlichen Schönheit gegen die unsichtbare Schönheit des alten Dialektikers. Und in dem Maß, in dem er sich auf diese Weise die Weisheit des Meisters zu kaufen können glaubt, verhält sich Alkibiades genau wie ein Kunde. Was er mit den Mitteln seines Charmes zu kaufen sucht – auch wenn die Währung in diesem Fall sein Körper ist –, ändert nichts an der Angelegenheit. Ein erotischer Vertrag, der der Rechtsprechung der libidinösen Ökonomie unterworfen ist, bleibt dennoch ein Vertrag.
Der Vorschlag von Alkibiades funktioniert in der Sphäre der Liebe, der Übertragung, die, wie wir gesehen haben, grundlegend für jedes Lehrverhältnis ist. Dieser Erfolg besteht in einer Umleitung der »erotischen Energie« (wie Freud gesagt hätte) mit dem Ziel eines profitablen Austausches. Alkibiades setzt in der Tat auf ein Genießen des Profits, eine lukrative, produktive Investition. Sicherlich könnte man noch einen Schritt weiter gehen und argumentieren, dass Alkibiades im Streben nach einem Vertrag mit Sokrates nichts anderes tut, als die Logik des prostitutiven Vertrags, der dem pädagogischen Vertrag unterliegt, bis zum Ende zu verfolgen: dein junger Körper, »flexibel«, formbar, gegen meinen Geist, mein Wissen, meine Prägung. »Ich führe dich in das ›Leben‹ ein und im Tausch bezahlst du mich mit dem Geschenk deines Körpers.«8
Es ist an Sokrates, dieser Logik des Tausches einen Widerstand entgegenzustellen und den Schwindel in diesem Geschäft sichtbar zu machen. Er bringt Alkibiades zu folgenden Einsichten. Erstens: Falls seine versteckte Schönheit, seine Weisheit jenes »Gold« ist, das Alkibiades in ihm sieht (der bekannte kostbare Glanz des agalma), dann wäre der Tausch gegen die Schönheit des »Kupfers« des anderen in der Folge nicht gerecht; aber vor allem zweitens: Seine schöne Weisheit wäre nur ein Objekt oder Produkt, das man eintauschen könnte, der verdinglichenden Logik des Tausches entsprechend. Genauso ließe sich sagen, dass die Gegenleistung in dem von Alkibiades vorgeschlagenen Handel problematisch und zweifelhaft ist. Die ersehnte und erhoffte Weisheit ist immer unsicher; wir verfehlen, verbergen, vergessen sie permanent; sie muss immer wiedergefunden werden, neu erforscht werden, wieder von Neuem gesucht werden. Sie ist vielmehr eine andauernde, unendliche Übung als eine dauerhafte Erwerbung; sie ist eher eine Arbeit, die im Gange ist, als ein Besitztum, das man ein für alle Mal haben kann. Es handelt sich nicht um eine Sache, die man austauschen, kaufen oder haben könnte, es handelt sich vielmehr um ein Sein.
Wenn also die Figur des Alkibiades sich auch nicht auf die des gegenwärtigen Studenten als Kunden reduzieren lässt, dann liegt das vor allem – bestehen wir darauf – an der »Bisswunde«, die der Eromenos erlitten hat, an der (narzisstischen) Kränkung, der Liebe (durch die Persönlichkeit des Sokrates »zu Fall gebracht worden zu sein«), dem »Liebeswahn«, von dem er befallen ist, die philosophou manias. Es liegt gewissermaßen also doch am Mangel, am Bruch und am Begehren. Sein Verlangen übersteigt also aus diesem Blickwinkel das Verlangte, das umso mehr jeden Austausch a fortiori übersteigt. Wie es die Liebe macht (↑ Love).
10. Der Student als Kunde, eingenommen vom liberalen Ethos, ist heute daran gewöhnt, die Leere unbeachtet zu lassen, den Mangel abzustreiten. Er verausgabt sich ausschließlich in Strategien des Tausches. Diese bestimmen mit ihren »Werten« des Gewinns, des Erfolges, der Leistung, der Wettbewerbsfähigkeit sein Handeln und füllen sein Leben aus. Er wird so zur empirischen Verkörperung des kognitiven Liberalismus und seines buchhalterischen Ethos: berechnende Härte, gleichgültig gegenüber Inhalt, Qualität und Originalität; bodenständiger Realismus: Ist das Gesetz der Welt nicht der Interessenskrieg aller gegen alle? Puer puero lupus. Er verachtet alles, was nichts »einbringt«, vor allem und in erster Linie den amourösen Irrtum, der darin besteht, mehr zu geben als man bekommt. Er achtet darauf, niemals mehr (an Energie, Mühe, Präsenz, Zeit) zu investieren, als er (an ↑ Leistungspunkten, Auszeichnungen, Aufwertungen, Diplomen) zurückbekommt.
So ist der Student als Kunde, den der »Bologna-Prozess« hervorbringt und den wir in unserem Unterricht auftauchen sehen. Seine strenge Buchführung ersetzt sein savoir-vivre (↑ Lebensführung, studentische). Die Wertform dient ihm als ethische Form. Er hat das Prinzip der unerbittlichen Buchhaltung des Systems verinnerlicht: Jede großzügige Energieausgabe, jede amouröse, verschwenderische Verirrung, alles Gebende – der Kapitalismus muss all dieses beseitigen, auslöschen, zunichtemachen. Er geht mit ihnen so um, wie mit den natürlichen Ursprüngen, mit den »Künstlern«, mit dem Anderen: dem »lac inconnu« (Marcel Proust), dem »no man’s land« im Inneren (Nina Berberova), nach dem Kunstwerke auf der Suche sind. Wie der Kapitalismus sich jetzt die nicht zweckgebundenen Bereiche vornehmlich innerhalb der Humanités aneignet, in denen unabgeschlossene Experimente, Kritik, Erfindung, Fragen, Werke gewagt werden. Wie er heute die Sokrates- und Alkibiades-Figuren ausschließt und das Lehrverhältnis als Unterweisung, als Infragestellung, als Umformung des Selbst auflöst. Hierfür genügt es ihm, sie aufzufordern, sich dem Gesetz der verbuchbaren Zeit und der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit unterzuordnen. Dieses Vorgehen ist der »Bologna-Prozess«.
11. Es wird also nichts mehr von der amourösen Übertragung und Gegenübertragung zwischen Lehrendem und Lernendem bleiben, die das Ethos eines Unterrichts oder Seminars, eines »Denkstils« ausmacht, indem es den Wunsch weckt, zu leben, ohne die eigene Seele zu verkaufen. Mit dem Anreiz des »großen Wissensmarktes« verschiebt sich folglich der (narzisstische) Einsatz in der Übertragung weg vom Lehrverhältnis und den qualia, die auf dem Spiel stehen, hin zum Tauschprozess selbst, um den es dabei geht: Investition gegen Gewinn, Unterrichtsstunden gegen credit points (ECTS), Transfer/Gegentransfer. Sprichwörtlich: Quid pro quo. Das Ergebnis, die Bilanz beläuft sich gewöhnlich auf null: Man begleicht seine Schuld und geht auseinander.
Es wird also keinen Rest geben, keine Spur, nicht mehr, als was ein Schuldverhältnis hinterlässt, das weder Raum noch Zeit für die Gabe hatte. Man stellt im Übrigen fest, dass an der Universität die Widmungen und sogar die Danksagungen letztlich aus den Abschlussarbeiten, den Dissertationen und den Büchern verschwinden. Es gibt gewissermaßen gar keine Bücher mehr, insofern ein Buch, das diesen Namen verdient, früher jedenfalls aus einer intrinsischen Notwendigkeit hervorging, die einer Schuld des Denkens oder des Schreibens oder des Lebens gegenüber einem nicht nennbaren Gläubiger geschuldet war. (Barthes: Woher kommt das Buch? Von Philia …; und Deleuze: Warum schreiben? Um das Leben aus seinen Zwängen zu befreien.) Das Buch, heißt es, schuldet man heute nun niemandem außer sich selbst. Das berechnete Ergebnis eines kalkulierten Aufwandes ist seinerseits selbst nichts anderes als eine Währung einer wissenschaftlichen oder universitären Karriere, die ganz und gar vom Gesetz des Wertes beherrscht ist. »Publish or perish.«
Wenn die Alkibiades-Figuren von heute sich somit bemühen ihre Reize einzutauschen, dann nicht mehr gegen das als wertvoll erachtete Wissen der Professoren, das man brennend gerne verstehen und sich aneignen möchte, um daraus eine lebendige Sprache und ein Ethos zu entwickeln, sondern vielmehr gegen die einfache äußere Form, die das Wissen annimmt: gegen seinen Tauschwert, der dekorativ oder »anziehend«, das heißt zitierbar, rezitierbar, wieder aufnehmbar, zuschreibbar und anschlussfähig ist. Sogar der diskursive Gebrauch des Zitats selbst und seines Gegenstücks, der Auslassung, könnten von nun an unter die Regel des Tauschwerts fallen. Man zitiert Autoren und Werke, die man nicht unbedingt gelesen hat, während andere absichtlich und nach Belieben weggelassen werden. In beiden Fällen nimmt man durch das Ausstellen von Wissen eine »Valorisierung von Kenntnissen« vor. Es handelt sich also um zwei Weisen, den Tauschgegenständen – der Dissertation, der Konferenz, dem Artikel oder dem auf dem Markt des Wissens verbreiteten Buch – einen Mehrwert zu verleihen. Der »Bologna-Prozess« verführt zu intellektueller Produktion im Modus des Betrugs, die nichts anderes als das Korrelat des liberalen Ethos ist, sie ist verrechenbar und funktioniert im universitären Umfeld und in der Forschung. Ob Zitat oder Plagiat, echte oder simulierte Kompetenz kümmert hier wenig, was zählt, ist der Grad an Attraktivität, das heißt an Austauschbarkeit, also der Umsatz.
12. Sich in dieser strengen Logik der Buchhaltung einzurichten, würde allerdings darauf hinauslaufen, sich damit abzufinden, auf eine Weise zu leben, bei der man nur das gibt, was man erhalten hat, ohne es zu verändern, indem man also das Gesetz der Wiederkehr des Gleichen aufrecht erhält. Nach dieser Rechnung wird man dem Leben nicht gerecht. Hannah Arendt hat in The Human Condition geschrieben, dass, selbst wenn wir Menschen sterben müssen, wir nicht geboren sind um zu sterben, sondern »um neu zu beginnen«. Um etwas ereignen zu lassen, was einen Moment zuvor noch nicht da war. Also, um anzufangen. Etwas zu beginnen, indem man in den Lauf des toten Lebens, welches nichts anderes als Wiederholung ist – ewige Wiederkehr des Gleichen –, Unterbrechungen setzt, die selbst wiederum lückenhaft sind. Alles der zählbaren Nutzung der Zeit unterstellen zu wollen, gemäß der summierbaren Bestimmung des Tauschgesetzes, heißt letzten Endes, jeden dazu zu zwingen, sich selbst in seinen »geheimen Stunden« verwalten zu lassen, »sein Verlangen aufzugeben«, nicht leben zu können, ohne seine Seele zu verkaufen, und somit jedem die geringste Chance einer Begegnung mit sich selbst, der Veränderung des Selbst, des »Neuanfangens« zu untersagen.
Ein Leben, das sich selbst nicht immer wieder in Frage stellt, das sich nicht verändert, wäre nicht wert, gelebt zu werden, erklärt der letzte Ausspruch der sokratischen Weisheit (Apologie des Sokrates, 38a). Diese Haltung bestimmt grundlegend das Lehrverhältnis der Unterweisung. Der Mensch ist nur »vollkommen« menschlich in dem Maße, in dem er empfänglich dafür ist, sich um sein Schicksal Gedanken zu machen, dafür, sich von der sofortigen, immer möglichen Wiederkehr der Frage ergreifen zu lassen oder ihr zu entgehen: Wie soll man leben? Und was ist ein Leben, das einen Wert hätte? Es ist sicher, dass die totale Austauschbarkeit droht, die Geschichte der Menschheit in den Untergang zu treiben.
13. Von nun an bleibt also noch eine einzige Frage: die der Menschlichkeit – oder noch genauer – die der Unmenschlichkeit – und der »Humanités«. Und die Humanités, in denen sich die Frage nach dem Kunstwerk, dem Schreiben und dem Denken stellt, sind der einzige Bereich, der den Problemen und Herausforderungen gewachsen ist, die unsere gegenwärtige Lage bestimmen. In Anbetracht dieser Tatsache ist die auf Verwaltung und Finanzen ausgerichtete kleine Weltanschauung von »Bologna« nur belanglos und unverantwortlich.
Vor ungefähr fünf Jahrhunderten im Zeitalter der studia humanitatis fasste Erasmus in einer berühmten Formulierung das Projekt der Humanitas zusammen: »homo fit, non nascitur«. Man wird nicht als Mensch geboren, sondern wird zu einem Menschen und sollte deswegen Sorge tragen, einer zu werden. Geht es immer um diese Aufgabe, dann verfolgen wir sie heute unter der Bedingung, gleichzeitig die Anamnese der Voraussetzungen des Humanismus zu verfolgen. Dabei müssen wir anfangen anzunehmen, dass der Mensch nicht nur das ist, was er ist und was er sein will, sondern auch das Andere dessen, was er ist und was er will. Der Mensch ist nur in dem Sinne menschlich, als in ihm etwas enthalten ist, was ihn übersteigt (und was demnach nicht menschlich ist). Was am Menschen das Essentiellste ist, geht über ihn hinaus. Und der Mensch ist nur insofern menschlich, als dass er in der Lage ist, diesen Exzess in seiner Gänze zu ertragen.
In Anbetracht dessen besteht die vorrangige Aufgabe der Humanités seit jeher (aber heute zweifellos in einer sehr viel entscheidenderen Weise) darin, das Rätsel dieses Paradoxes, das Geheimnis dieser Unheimlichkeit aufzunehmen und damit zu arbeiten, ein Ethos der Sorge in Bezug auf das Inkommensurable zu entfalten. Und sich zu bemühen, sein Leben dieser Sorge zu verschreiben. Diese Aufgabe wurde von einer Reihe moderner Denker in Angriff genommen, die von Schelling zu Nietzsche und bis hin zu den »Franzosen« reicht. Heidegger tut dies zum Beispiel, wenn er sich den Ausspruch Heraklits zu eigen macht: êthos anthropô daimôn. Es bleibt dabei: Dies lässt sich nicht als Material bei einem Austausch oder einer Vermittlung verwerten, so wie auf diesen Seiten (Punkt 6 bis 9) beschrieben. Es ist an jedem Einzelnen, seine Einzigartigkeit zu würdigen, am Selbst und am Anderen des Selbst zu arbeiten, was jeder und jede der eigenen Existenz schuldig ist.
Aubervilliers, Juni 2012
Aus dem Französischen von Johanna-Charlotte Horst, Vera Kaulbarsch, Elias Kreuzmair und Léa Kuhn
1 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Hamburg 2006, § 83, S. 354.
2 Vgl. Plínio Prado: Das Prinzip Universität, Zürich 2010, § 16.
3 Vgl. ebd., §14–17.
4 Vgl. ebd., §§ 13–14ff. sowie den zweiten Teil: »Ein in der Universität verirrter Poet. Wittgenstein und die Erfindung der ›Non-lectures‹«, in: ebd., S. 51–90.
5 Vgl. Prado: »Ein in der Universität verirrter Poet. Wittgenstein und die Erfindung der ›Non-lectures‹«, in: Das Prinzip Universität, S. 51–90.
6 Vgl. ebd.
7 Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile, in: Sämtliche Werke, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, (KSA) Bd. 3, München 1980, S. 17.
8 Roland Barthes: Le discours amoureux. Séminaire à l’École Pratique des Hautes Études, 1974–1976, Paris 1976, S. 537. Hier von den Übersetzern ins Deutsche übertragen.
»ECTS-Punkte«, »employability«, »Vorlesung« – diese und viele weitere Begriffe sind durch die Bologna-Reformen in Umlauf geraten oder neu bestimmt worden und haben dabei für Unruhe gesorgt. Die Universität ist dadurch nicht abgeschafft, aber dem Sprechen in ihr werden immer engere Grenzen gesetzt. Anfangs fremd und beunruhigend, fügen sich die Begrifflichkeiten inzwischen nicht nur in den alltäglichen Verwaltungsjargon, sondern auch in den universitären Diskurs überhaupt unproblematisch ein.
Das Bologna-Bestiarium versteht sich als ein sprechpolitischer Einschnitt, durch den diese Begriffe in die Krise gebracht und damit in ihrer Radikalität sichtbar gemacht werden sollen. In der Auseinandersetzung mit den scheinbar gezähmten Wortbestien setzen Student_innen, Dozent_innen, Professor_innen und Künstler_innen deren Wildheit wieder frei. Die Definitionsmacht wird an die Sprecher_innen in der Universität zurückgegeben und Wissenschaft als widerständig begriffen.