»Wenn das Ende naht«, schrieb Cartaphilus,* »bleiben von der Erinnerung keine Bilder mehr; es bleiben allein Worte«: Worte, entstellte und verstümmelte Worte, Worte anderer waren das kümmerliche Almosen, das ihm die Stunden und die Tage überließen. Jorge Luis Borges, Der Unsterbliche.
»So viele Egoisten nennen sich selbst Autoren«, schrieb Rimbaud am 15. Mai 1871 an Paul Demeny. Auch wenn es nicht immer offensichtlich scheint, ist »Ich«, die erste Person, zugleich die unbekannteste Person, ein Geheimnis, das sich ständig auf die anderen beiden, die zweite und die dritte Person, zubewegt, eine Reihe von Entfaltungen und Brüchen, die irgendwann zu »Je est un autre« verklumpte. Deshalb ist »apokryph« ein literarisch irrelevanter Begriff und »pseudo« ein Symptom, der schlagende Beweis, dass das Leben, das Schreiben, aus Echos besteht, was wiederum bedeutet, dass Einschaltungen und Diebstähle (auch dies spricht Borges an) stets das täglich Brot derjenigen sein werden, die schreiben.
Die Worte anderer, entstellte und verstümmelte Worte: Sie sind die Almosen der Zeit, die einzige Wohltat dieses Verschwenders. Und so viele andere, zumeist andere, die schrieben, und viele andere Seiten, allesamt apokryph, allesamt Echos, Spiegelungen. All dies fließt in den letzten Worten zusammen, die – zwei Jahrhunderte bevor Borges das oben Zitierte niederschrieb – ein Sterbender zum Besten gab, ohne die Sprache zu kennen, in der er sprach, ohne jemals gewusst zu haben, was sie bedeuten.
In einem der Gespräche zwischen Goethe und Eckermann erzählt Ersterer die Geschichte eines Mannes, der, als er auf dem Totenbett lag und schon nicht mehr in der Lage war, Gesichter zu erkennen, alle Anwesenden in Staunen versetzte, indem er einige griechische Maximen aufsagte, obwohl er die Sprache nie gelernt hatte. Einem fiel schließlich ein, dass der Mann in seiner Jugend angestellt worden war, um einem jungen, faulen Adeligen beim Lernen behilflich zu sein. Jener Vertrag setzte voraus, dass der Mann sich eine Reihe von griechischen Maximen einprägte, die er nicht verstand und nie verstehen würde. Nicht einfach nur verstümmelt, sondern in regelrecht unzugänglicher Form wurden diese fremden Worte dem Gedächtnis anvertraut, ohne je wirklich ins Herz aufgenommen worden zu sein. Sie blieben für immer unaussprechlich und wurden nur im letzten Augenblick aufgerufen, ein Schrei, eine Bitte, ein Lachen, ein ganzes Leben in diesen erbärmlichen Klängen, bevor der Atem nachließ.
Worte sind menschliche Dinge; eine tiefe Dunkelheit sättigt sie, während sie sinnlos auf dem Totenbett geäußert werden, nachdem die Bilder der Erinnerung verblasst sind; während sie aufgesagt werden, bleibt viel Nüchternheit ungeklärt.
Bezüglich der Begriffe fremd und Fremdheit sind zahlreiche Ansätze denkbar. Da es jedoch den Schatz der Parteilichkeit zu wahren gilt, habe ich mich auf einen, allenfalls zwei beschränkt und versucht, ihre Musikalität zu Gehör zu bringen: eine seltsame Geschichte von Goethe hat mir, so scheint es, geholfen, einige seltsame Zeilen von Jorge Luis Borges zu begreifen.
* Joseph Cartaphilus ist der Name eines Antiquars aus Smyrna, der 1929 der Prinzessin von Lucinge eine sechsbändige Ausgabe der Ilias von Pope anbot. Einige Monate später starb er auf See, als er nach Hause zurückkehrte. Er wurde auf der Insel Ios (einem möglichen Geburtsort von Homer) begraben. Im sechsten Band der Ilias lag das Manuskript, das wir beim Lesen von Borges’ »Der Unsterbliche« mitlesen.