»Eine eigene Technologie zu haben ist nicht das Gleiche wie eine eigene Geschichte zu haben«, schreibt Jonathan Franzen. »Es ist vielmehr das Gegenteil davon: Es bedeutet, die gleiche Geschichte zu haben wie alle anderen auch.« Franzen kritisiert den Einfluss der neuen Medien auf unsere Weltwahrnehmung und reagiert allergisch auf alle Spielarten der generischen Vernunft. Kunstschaffende verweigern sich notgedrungen dem Generischen: Sie haben eine Geschichte, die niemand sonst hat. Aber ist es deswegen eine eigene Geschichte? Jede Kunstform schafft einen gesellschaftlichen Tatbestand, der letztlich allen und niemandem gehört. Die Zentralperspektive gehört weder Brunelleschi noch Italien. Eine eigene Geschichte bezieht sich aber auf etwas anderes als auf Idiosynkrasie oder kulturelles Eigentum: Sie hat mit der Aneignung von Zeit zu tun, mit der Appropriation des Geschehens und Erlebens unter den Bedingungen einer mündigen Sicht auf eine unmündige Welt. Sie ist Ausdruck der Souveränität. Kafka schreibt über den Panther, der im Käfig den Hungerkünstler ablöst: »Ihm fehlte nichts. Die Nahrung, die ihm schmeckte, brachten ihm ohne langes Nachdenken die Wächter; nicht einmal die Freiheit schien er zu vermissen, dieser edle, mit allem Nötigen bis knapp zum Zerreißen ausgestattete Körper schien auch die Freiheit mit sich herumzutragen; irgendwo im Gebiß schien sie zu stecken; und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, daß es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten.« Nicht Einzigartigkeit, sondern innere Gültigkeit zeichnet das eigene Tier. Sein Individuelles ist etwas, was auf die Kunst folgt – wie der Panther auf den Hungerkünstler folgt.
Wer eine einzigartige Geschichte hat, hat niemanden, der sie verstehen kann, ist also sinnlos einzeln. Und wer eine Geschichte wie alle anderen hat, verliert jede Distanz zum Verständnis, ist also kollektiv sinnlos. Gleichwohl beruht jede Kultur, jede Kommunikation auf generischen Regeln. Es ist nicht ›individuell‹, eine eigene Grammatik zu benutzen. Und obige Kritik der generischen Vernunft bezieht sich nicht auf Fälle, in denen Technoalgorithmen – von Malmaschinen bis Lyrik-Bots – zu künstlerischen Ausdrucksmitteln werden. Denn jede Überwindung von Kunst ist künstlerisch, jede Überwindung der Vernunft ist vernünftig, und jede artifizielle Intelligenz, die vernünftig ist, ist notwendigerweise ›natürlich‹. Idiosynkrasie an sich oder Generik an sich schaffen keine Geschichten. Wie die Idiosynkrasie ein Archetypus der Singularität ist, ist die Generik ein Archetypus der Reproduzierbarkeit. Sie bestimmt die Grammatik des biologischen Lebens, wie sie auch die DNA der Herrschaft strukturiert. Die Architekturlehre des Vitruv etwa liefert generische Anleitungen für Repräsentationen der Zeitmacht: steinerne Algorithmen, die den Hegemonialraum der Dynastien eichen. Da gibt es Variation, aber keine Improvisation. Kein Machiavellist hat Interesse an Soft Skills. Für Rudolf Rocker war das antike Rom deswegen die Ausgeburt der Unkultur, weil es auf dieser Generik der Macht beruhte und daher in über tausend Jahren keine nennenswerte Kunst hervorgebracht habe. Bis zum heutigen Tage ist alle politische Repräsentation generisch: Nationalhymnen klingen ähnlich, und Sportler stehen dazu ähnlich stramm, moderne Regierungsgebäude machen auf Klassizismus (außen weiß) und invertieren sich als Repräsentation des internationalen Kunst-Jet-Sets zum White Cube (innen weiß). Auch das staatliche Gewaltmonopol ist generisch: Polizisten von Hongkong bis Istanbul knüppeln unabhängig vom kulturellen Unterschied Demonstranten auf die gleiche Weise nieder.
Generik bedeutet, dass sich Zeichenalgorithmen nicht selbst qua Feedback erneuern – wie in einer ›lebendigen Erzählung‹ oder in der Kybernetik zweiter Ordnung –, sondern dass sie sich wiederholen, ohne den überquellenden Produktionsformen des Spätkapitalismus standhalten zu können, von dem sie selbst herrühren. Der Kapitalismus überproduziert Idiosynkrasien auf generische Weise, ohne sich um die Umstände ihrer Reproduktion zu kümmern. Der Kapitalismus weiß nicht, mit Eva Illouz, »wie man Produzenten reproduziert«. Er schafft nicht Beziehungen, sondern Beziehungskrisen, die den allgemeinen Kapitalfluss hemmen. Aber zugleich erzeugt er den Überfluss, dessen niemand Herr wird. Die Generik ist ein Ausdruck für den Wärmetod der politischen Ökonomie, während die Idiosynkrasie Ausdruck für ihren Kältetod ist. Im Spätkapitalismus reproduziert sich entweder nur das Besondere als idiosynkratische Form pseudoindividuellen Erlebens in der »Gesellschaft der Singularitäten« (Andreas Reckwitz) oder nur das Allgemeine als generische Form instrumenteller Vernunft, wie sie sich heute qua Big Data oder »Social Physics« (Alex Pentland) zeigt. Die mediale Ghettoisierung der Monaden einerseits und der ›Sheeple‹ andererseits deutet auf eine apokalyptische Stasis, eine dialektische Endzeit, in der es keine Vermittlung zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen mehr gibt.
Das ›abendländische Denken‹ hat sich früh auf die idiosynkratische Seite des Kapitals geschlagen und versucht, mit Konzepten der Authentizität zu punkten. Diese Versuche haben sich von Anfang an mit einem verkappten Essenzialismus verkoppelt, etwa bei Heideggers skulpturaler Selbstversenkung in die Seinsfrage, denen die generischen Prozeduren – das Man, die Technik, das Gestell usw. – zwar ontologisch nichts anhaben können, sie aber gleichwohl ontisch bedrohen. Wenn auch in Edmund Husserls defensiv gehaltener Krisis-Schrift ein ähnlicher Techno-Defätismus herauszulesen ist, geht es beim heideggerschen »Jargon der Eigentlichkeit« (Adorno) um mehr als nur um antiamerikanische Zivilisationskritik aus der Position des authentischen Germanenlebens. Es geht – zumindest anfänglich – um eine Positionierung, die Heidegger, wie Hannah Arendt einmal im Interview sagt, Anfang der 1920er Jahre bei Studenten zum Ereignis werden lässt: Heideggers intellektuelle Ausstrahlung bestand nicht darin, sagt sie, über etwas zu denken, d.h. zu räsonieren, sondern darin, etwas zu denken. Der Unterschied zur generischen Rationalisierungspraxis wird in der Auseinandersetzung mit Rudolf Carnap deutlich: Carnap möchte die Idiosynkrasie Heideggers auf ein allgemeines Regelwerk zurechtstutzen und zählt in seiner Replik logische und begriffliche Fehler auf, in der Annahme, damit den Idiosophen belangen zu können. Dem Einfluss Heideggers hat das keinen Abbruch getan, weil es auch in der Philosophie um etwas geht, das die Philosophie übersteigt. Nennen wir es frei nach Ernst Tugendhat: intellektuelle Dringlichkeit. Am gleichen Punkt setzt Slavoj Žižek an, wenn er in seinem Text In Defense of Hegel’s Madness den Idealisten gegen gegenwärtige philosophische Versuche verteidigt, vom Common Sense vereinnahmt und in den (neo-)liberalen positivistischen Kanon gepackt zu werden. Žižek verteidigt den nicht reduzierbaren, spekulativen und nicht interpretierbaren Kern des Hegelianismus – wenn man so will, Hegels gnadenlose Dumpfheit: »Hegels Aussagen müssen uns schockieren, und dieser Exzess kann nicht durch Interpretation wegerklärt werden, da die durch sie übermittelte Wahrheit davon abhängt.« Wenn Schopenhauer einmal in einer Hegellektüre am Buchrand unter seiner bissigen Notiz »Quelle bêtise!« einen Eselskopf hinzuzeichnet, um dieser Dumpfheit einen Ausdruck zu geben, dann wird darin eine Dringlichkeit deutlich, die sich auf dieselbe Weise durch den philosophischen Diskurs ätzt, wie sich das Außerirdischensekret im Alien-Film durch die Decks des Raumschiffs frisst. Es eröffnet sich eine andere Instanz des Aushandelns: der blanke, ›eigentliche‹ oder ›wahnsinnige‹ Diskurs, wie sehr er auch epistemologisch, libidinös, ökonomisch, politisch usw. vermittelt ist. Beim philosophischen Eklat, dem Etwas-Denken, geht es – ähnlich Bretons surrealistischem Schock – nicht um Mystifizierung (»nicht interpretierbar«), sondern um das Erspüren der Koordinaten des Generischen im Bezug zur Idiosynkrasie des Wissens.
In zeitgeschichtlichem Rahmen stellt sich der Konflikt von Generik und Idiosynkrasie als Gefahr der Wesensentfremdung dar, die in Kulturdebatten immer wieder konservative Kräfte auf den Plan ruft. Michel Houellebecq etwa sieht den Konflikt in Alexis Tocquevilles Essay zur Demokratie in Amerika angelegt: Zum einen vermeint Houellebecq im sanften Despotismus, von dem Tocqueville schreibt, ein neues Matriarchat aufkommen zu sehen, das sich heutzutage etwa in der vermeintlichen Kapitulation Europas vor den Herausforderungen der Einwanderung zeige. Das Matriarchat verkenne nach Houellebecq die Gefahren der allgemeinen Nivellierung, gar Verweichlichung, und lasse die »ähnlichen und gleichgestellten«, d.h. generischen Menschen in ihrem Hedonismus versinken, dessen Verzauberungselixier wie Muttermilch aus der Brust der Übermutter fließt. Zum anderen sieht Houellebecq ein Zeitalter der Vereinzelung aufkommen, das er, Houellebecq, selbst zu Ende gebracht habe – d.h. der idiosynkratische Rückzug des singulären Individuums, das vollständig in seiner Bestimmung aufgegangen ist: alleine, unfähig zu kommunizieren, bindungsdebil. Houellebecq klingt wie ein verstoßener Sohn, der nicht mehr an die Mutterbrust gelassen wird. Also überkompensiert er das Verbot durch die Klage über die Weltverschwörung der Zitze. Der vom Exzess gestählte Einzelgänger Houellebecqs ist ans mütterliche Bett gefesselt und zugleich in der Zivilisationswüste verloren, ein rastloser Oblomov, der ebenso generisch, überflüssig wie selbstbewusst ist. Houellebecq verkennt, dass das ›Matriarchat‹ transsexuell ist, denn der/die/das Macht ist in ihre/seine Bestandteile zerlegt, an die Bedürfnisse jedes Einzelnen angepasst und im Äon der planetarischen Bedürftigkeit aufgegangen, die das Tor zu Trost und Tyrannei aufstößt. Gefahren sind immer da, für alle und jederzeit, aber sie kommen eben nicht vom phantasmatischen Außen. Es gibt vielmehr nur ein einziges großes Innen, ein Innen, das sich irgendwann einmal in der Menschheitsgeschichte mächtig derangierte – fast so, wie John Kennedy Toole in Die Verschwörung der Idioten notierte: »Die Große Kette des Seins war gerissen...«.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die eigenwilligen Zuckungen heutiger Supersubjekte – von Superhelden bis hin zu Super-Leadern, die sich über geltende Regelwerke hinwegsetzen, um ›ihr Ding‹ zu machen – als Symptom einer verklausulierten Angst, die Houellebecq kulturell liest und die beim technophoben Phänomenologen seinsdramaturgische Konsequenzen hat. Es ist die Angst vor der endgültigen Verallgemeinerung des Menschen, wie sie etwa heute mit der zunehmenden Rationalisierung der Arbeit und der Überflüssigwerdung des Homo Sapiens bis hin zur vollständigen Umfassung der Lebenswelt durch Technologien vorangetrieben wird, an deren Ende womöglich eine Techno-Singularität und die Ersetzung des Menschen durch seine Einzelteile steht – totum pro parte. Bei IT-Evangelisten wie Larry Page knüpfen sich an diesen technologischen Aufstieg utopische Hoffnungen. Gerade am Monopolinstinkt des Google-Gründers wird aber deutlich, welche globalen Auswirkungen ein einziger Algorithmus – etwa Page Rank, die ursprüngliche Formel der Google-Suchmaschine – haben kann. Die Verallgemeinerung des Menschen ist so weit gediehen, dass die größte US-Bank, JPMorgan Chase, ihre Kundenkommunikation inzwischen von AI-Algorithmen durchführen lässt. In einem dreijährigen Pilotprojekt stellte sich heraus, dass Kunden deutlich häufiger auf von AI-generierte als auf von menschlichen Textern verfasste Botschaften reagierten. Die Programme ›erspüren‹, wie Kunden ticken, aber nicht, weil die AI-Intelligenz immer menschlicher wird, sondern umgekehrt: weil Kunden inzwischen so generisch wie Programme ticken, die wiederum von Programmierern zum Ticken gebracht werden. Das bedeutet, was in CGI-Blockbustern oder im Automobil-Design schon lange nachzuvollziehen ist, dass die Sprachen und Ästhetiken von Programmierer-Nerds das öffentliche Leben dominieren, dass die generische Vernunft zahl- und namenloser Admins zunehmend die Geschicke der Welt bestimmt. Artifiziell ist daran nichts.
Wohin uns auch immer der Konflikt der Zeichen führt, es scheint wichtig, eine bifokale Bewältigungsstrategie aufrecht zu erhalten. Denn alarmistische Apokalyptikergilden, die ritualisierte Drohszenarien über eine generische Klonzukunft des Menschen entwerfen, verkennen, dass sie selbst nicht immer individueller argumentieren, als es ihr späterer Androidersatz täte. Und transhumanistische Technoutopisten, die ihre Fortschrittsvisionen entpolitisieren und zugleich vergesellschaften, vergessen, dass sie die Freiheiten, mit denen sie das zukünftige Paradies des Kapitalkommunismus entwerfen, in diesem Paradies später nicht mehr genießen werden. Wer wie IT-Guru Alex Pentland jedem Erdbewohner Soziometer verpassen möchte, hat heimlich für sich schon Fluchtvorrichtungen geschaffen. Weil sie über smarte Zukunftsinstinkte verfügen, sind Big-Data-Genies ja auch nicht selbst auf Social Media aktiv, raten wie Zuckerberg & Co. ihren Kindern sogar davon ab. Für den Facebook-Gründer ist Facebook Teufelszeug. Bill Gates verbot seinen Zöglingen bis zum 14. Lebensjahr das Verwenden von Smartphones, Apple-Chef Steve Jobs hielt seine Kids von iPads fern, und auch der jetzige Apple-CEO warnt: »Don’t let your kids use social media«. Wie heißt es so schön: Never get high on your own supply.
Kurzum: Der sich im Großen und im Kleinen permanent entfaltende Kampf von idiosynkratischer und generischer Vernunft erfordert eine Kritik aus der Perspektive einer »befreiten Seele« (Franco Berardi). Denn unsere Zukunft, die Zukunft des Gattungswesen Mensch, liegt weder in der idiotischen Einzigartigkeit noch im technokratischen Glück, sondern in der Dringlichkeit – Eindringlichkeit, Aufdringlichkeit –, mit der wir den Herausforderungen des Lebens begegnen. Das ist nicht in erster Linie eine Frage der Technologie, sondern es ist eine Frage der Technik. Um auf Jonathan Franzen zurückzukommen: Die gleiche Geschichte wie alle anderen zu haben, ist nämlich dann keine Horrorvorstellung, wenn es sich um eine brillante Geschichte handelt.