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Benno Wagner: Die Versicherung des Übermenschen
Die Versicherung des Übermenschen
(p. 259 – 294)

Kafkas Akten

Benno Wagner

Die Versicherung des Übermenschen
Kafkas Akten

PDF, 36 pages

Wenn, Benno Wagner zufolge, Kafkas intimes und pausenloses Zwiegespräch mit Nietzsche bereits seine frühen Schreibversuche maßgeblich informiert, so beschränkt sich der Einsatz dieses Gesprächs keineswegs auf die Fragen der Reproduktion und der Produktivität von Zeichen, Menschen und Werten. Vielmehr interessiert sich Kafka von Beginn an, also noch vor dem Beginn seiner Laufbahn als Unfallversicherungsjurist, für die dem Umwertungs- und Züchtungsprojekt seines Gegenübers inhärenten Gefahren und Risiken. Warburg hat, mit Bezug auf Burckhardt, das Berufsrisiko des Sehers in seiner konstitutiven Schwäche, seiner reinen Empfänglichkeit unter Ausschaltung schützender Se-lektion erkannt (»Die Frage ist, ob der Sehertypus die Erschütterungen seines Berufes aushalten kann«). War Kafkas Berufswahl, wie Wagner nahelegt, von solchen Erwägungen beeinflusst, so wird er nach seinem Eintritt in die Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen in Prag zum Experten für Berufsrisiken aller Art und Zahl, mitsamt deren nicht nur individuellen, sondern auch sozialen und kulturellen Schadensfolgen. In seiner poetologisch gewendeten Diskursanalyse führt Wagner vor, wie Kafkas »Poetik des Unfalls« das Referenzial der Unfallversicherung den tragenden Kategorien und Verfahren von Nietzsches ›gefährlichem Denken‹ unterlegt und wie die Transkriptionen und Proliferationen dieses Denkens im Diskurs der Weltkriegspropaganda in Kafkas einzigartigem Projekt einer ›Kulturversicherung‹ wieder absorbiert werden: indem nämlich Kafka durch seine paradoxogene Anspielungspoetik zentraler Nietzsche’scher Denk- und also Sprachbilder von Medien der Dissoziation in Medien der Assoziation umfunktioniert, in imagologische Rudimente eines transethnischen Sozialvertrags jenseits der Grenzen der Sozialversicherung.

  • Franz Kafka
  • Nietzsche
  • Modernism
  • literary studies
  • discourse history

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Benno Wagner

Benno Wagner

studied Journalism (Dortmund), Media Studies and German Literature and Language (Bochum) and Ethnology (Brisbane, Australia) and graduated with a dissertation on Kafka in 1998. He has been visiting lecturer at the Universities of Siegen, Harvard (Center of European Studies), Tokyo, Bochum and research fellow at the Czech National Gallery and the Beijing Institute of Technology. He is professor of Literature and Modern German Literature and tenured professor at Taipei University. 

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Es gibt kaum zwei andere Autoren der deutschsprachigen Moderne, bei denen das Verhältnis von Sprache und Leben so intensiv verhandelt wird wie bei Friedrich Nietzsche und Franz Kafka. Für Nietzsche, den »gefährlichen Denker« und das »Dynamit« der christlich-abendländischen Werteordnung, wie für Kafka, den »Dichter der Angst« und Experten für Arbeiter-Unfallversicherung, bilden die biopolitischen Dispositive des heraufkommenden Wohlfahrtsstaates und die Verschiebungen, die der Historismus für die Ökonomie des Wissens und die Massenpresse für die Ökonomie der Rede bedeuten, eng aufeinander bezogene Faktoren des Problemgefüges, das ihre Schreibprojekte hervortreibt. Für beide stellt der Doppelcharakter sprachlicher Überlieferung – als Sicherung des kollektiven Lebens und als Unterwerfung des individuellen – eine zentrale schriftstellerische Herausforderung dar, und beide begreifen die daraus resultierende Riskanz einer radikalen Umschrift der durch Lektüre angeeigneten Tradition als ethisches Problem.

Der Band zielt darauf ab, die beiden Antworten auf jene Herausforderung vor ihrem jeweiligen biographischen und zeitgeschichtlichen Hintergrund gegeneinander zu kontrastieren und sie zugleich als – bis heute gültige – paradigmatische »Haltungen« im diskursiven Feld der Moderne sichtbar werden zu lassen. Indem der Band den »dialogischen« Bezug Kafkas auf Nietzsche auf der Folie diskursiver und medialer Ereignisse und Konstellationen der Zeit motiviert und spezifiziert, lässt er ihn zugleich als vielstimmigen »Polylog« oder sogar unlesbaren »Babellog« quer durch die Kultur und die Wissensfelder des anbrechenden »kurzen 20. Jahrhunderts« (1914–1989) erscheinen.