Offizielles Dokument
INS-Erklärung
zum Begriff der »Zukunft«
Warnungen und Mahnungen für Kulturvertreter
des frühen bis mittleren 21. Jahrhunderts
Themen:
Bewusstsein, Spätkapitalismus, glückliche Zeiten, Hegel’sche Narrative der Transzendenz, Hamlet, Joyce, Ballard, Fürstin Gracia von Monaco
Typ:
INS-Erklärung
Autorisiert durch:
Zentralkomitee, INS
Autorisierungscode:
TMcC010910
[Dokument nachfolgend]
Im elften Jahr des Bestehens der International Necronautical Society geriet das Zentralkomitee unter Druck, dem eigenen avantgardistischen Anspruch zu entsprechen und irgendein »Statement« abzugeben, in dem die Leistungen der INS umrissen und Prognosen für die Zukunft abgegeben werden sollten. Beides lehnen wir ab.
Was den ersten Punkt anbelangt: Was würde es bedeuten, »von« den ersten zehn Jahre der INS zu sprechen? Über sie zu sprechen, eine Art Overdub? Vorstellbar wäre ein Bericht von der Verteilung des Gründungsmanifests auf der Londoner Articultural Fair 1999; von dem raschen Aufgreifen der Thesen des Manifests in der Kunstwelt und ihren Institutionen; von einer Reihe zunehmend ehrgeiziger Projekte – Hearings, Publikationen, Funkübertragungen aus dem Moderna Museet in Stockholm und dem Institute of Contemporary Arts in London (mittels als »Black Boxes« bekannt gewordenen Sendern); von Erklärungen unter der Schirmherrschaft der Tate Britain und des Drawing Center in New York; von der nicht ganz freiwilligen Bereitstellung von Sendeplatz für unsere Propaganda-Programme durch die BBC und andere Medienanstalten, deren Websites wir uns zeitweise bedient haben; und schließlich von der Historisierung der INS – nämlich die Aufnahme als Studiengegenstand in die Lehrpläne von Kunsthochschulen.
Nur, was hätte man von einem solchen Bericht? Zählt man die Kratzer, die man auf einem Filmstreifen hinterlassen hat, unterstellt man, dass man aus dem Film heraustreten und ihn an Anführungszeichen zum Trocknen aufhängen kann. Ein falscher Maßstab und zugleich ein Denkfehler: Der Film ist überall, immer, schon jetzt – und unser Ziel sollte sein, ihn völlig zu zerkratzen.
Sollten wir also von der Zukunft sprechen? Das scheint Avantgarde-gemäßer. Doch auch das lehnen wir ab, sogar noch vehementer. Warum? Weil die Begriffe, Annahmen und Ideologien, die in diesem überfrachteten und trägen Mem »Zukunft« stecken, dringend einmal gründlich auseinandergenommen werden müssen. Genau das will diese Erklärung unternehmen. Wie jegliche INS-Propaganda sollte sie nach dem Gutdünken der Leser wiederholt, abgewandelt, verfremdet und verbreitet werden.
1.
Kulturell betrachtet, beginnt die Zukunft mit einem Autounfall. Oder vielmehr mit dem Bericht von einem Autounfall: eine immer schon vermittelte, archivierte und wiedergegebene Katastrophe. »Wir haben die ganze Nacht gewacht – meine Freunde und ich«, schreit Marinetti im Februar 1909 von der Titelseite des...