Fröhlich-parasitär nährt sich die International Necronautical Society von den verblichenen Avantgarde-Bewegungen des letzten Jahrhunderts, seien sie künstlerischer, kultureller oder politischer Natur. Ihre Manifeste, Berichte und Verlautbarungen, ihre Agententätigkeit, ihre Sitzungen, Nachrichtensendungen und Anhörungen werden seit 1999 penibel dokumentiert. Der Band versammelt eine Auswahl offizieller Mitteilungen der INS aus den Jahren 1999 bis 2010, die hier erstmals in deutscher Sprache zugänglich sind.
»Manchmal fragt man uns: Wie kann ich beitreten? Wie wird man ein Nekronaut? Falsche Frage. Wie Absatz 3, Zeilen fünf und sechs des Ersten Manifests der INS klar zum Ausdruck bringt, schamlos abkupfernd bei der ausgelaugten Sprache der Dekonstruktivisten: ›Wir sind alle Nekronauten, immer schon‹. Unser Auftrag ist die Verbreitung dieser Tatsache: nicht als begreifbares Wissen, sondern eher so, wie Molly Bloom ihrem Gatten den Mund mit Mohnkuchen füllt, diesen Moment dann wiederholt, mit einem stillen Ja.«
Transmission, Death, Technology
Typ:
General Secretary‘s Report to the International Necronautical Society
Autorisiert durch:
Tom McCarthy
Autorisierungscode:
TMC061203
[Dokument nachfolgend]
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Calling All Agents ist mein zweiter Bericht für die Internationale Nekronautische Gesellschaft (International Necronautical Society, INS). Mein erster, Navigation Was Always a Difficult Art (Navigation war schon immer eine schwierige Kunst), der während unseres Gastaufenthalts am österreichischen Kulturforum (London, 2001) entstand, beschäftigte sich mit den Themen Kartographie, Handwerk, Materie und Gesang. Diese Themen entwickelten sich anhand gewisser ›Knoten‹, ›Figuren‹ oder ›Momente‹: Melvilles Queequeg, der seine Tätowierungen auf einen Sargdeckel überträgt, Shakespeares Ariel, der Ferdinand mit seinem Gesang über Prosperos Insel führt, Donald Campbell, der im See Coniston Water mit seiner Bluebird verunglückt, und so weiter. Gegen Ende dieses Berichts wurde ein bestimmter Moment, oder, besser gesagt, eine Reihe von Momenten besonders bedeutsam: Die Szenen aus Jean Cocteaus Film orphée (1950), in denen der Protagonist des Films kurze Gedichtzeilen aus einem Radio empfängt, die von einem unbekannten Sender übertragen werden. Diese Szenen beschäftigten die INS in den darauffolgenden Monaten. Wir vermuteten, dass sie ein Code waren für weiterreichende Prozesse – nicht nur Cocteaus Film betreffend, sondern auch allgemeiner Kunst, Leben und das, was Anthropologen und Psychoanalytiker als symbolische Ordnung bezeichnen. Diese Vermutung verdichtete sich, so dass sich der INS-Vorstand entschloss, eine Rundfunkstation und, indem andere Sender dazu animiert wurden, ihr Signal zu übernehmen, ein Übertragungsnetzwerk aufzubauen.
Um dieses Projekt vorzubereiten, luden wir in die Londoner Cubitt Gallery zu Anhörungen ein, die um die Themen Übertragung, Tod und Technologie kreisten (Second First Committee Hearings: Transmission, Death, Technology; 16. November 2002). In einem von Laura Hopkins gestalteten Raum wurden Autoren und Künstler mit Kenntnissen in den Bereichen Sound, drahtlose elektronische Kommunikation, Verschlüsselungstechniken und Rundfunkübertragung von einer Delegation befragt, die aus mir, dem INS-Propagandachef Anthony Auerbach (archivarische und erkenntnistheoretische Kritik) und dem Autor und Rundfunkexperten Zinovy Zinik bestand.
Nachdem Aufzeichnungen der Hearings im Radio gesendet worden waren, kamen Angebote von Redakteuren und Web-Programmierern großer Nachrichtenagenturen, unsere Propaganda in das Programm und den Quellcode ihrer Auftraggeber zu übernehmen. Kurz darauf bot uns das ICA (Institute of Contemporary Arts, London) an, als Gastgeber für die erste offizielle Inkarnation unserer Sendestation zu fungieren. Wir nahmen die Einladung an. Eine UKW-Lizenz wurde beantragt und für die erste Aprilwoche 2004 genehmigt.
Bevor wir senden können, müssen die bei den Hearings gemachten Aussagen analysiert...