Verlangen Sie von mir keine Definition von Animismus. Ungeachtet der Disziplin, der die verschiedenen Definitionen eines solch allgemeinen Begriffs angehören, tragen sie immer den Stempel ihrer Herkunft. Schon das bloße Wort kann kaum von abschätzigen kolonialistischen Assoziationen getrennt werden, ebenso wenig wie von Assoziationen mit der Idee von »Entwicklungsstadien«, einer weit verbreiteten völkerkundlichen Vorstellung, die von Sigmund Freud, James Frazer und Edward B. Tylor geteilt wird. Das erwachsene, rationale (männlich-weiße) Subjekt, das die bittere Wahrheit akzeptiert hat, dass es in einer stummen und blinden Welt allein ist, kann nun die Vergangenheit als das definieren, was zu ihm hinführt.
Freilich sind heute einige Ethnologen bemüht, sich von einer solchen Evolutionsgeschichte zu befreien – einer nicht-darwinistischen im Übrigen, da sie das Darwin’sche Abenteuer des Lebens auf der Erde, ein offenes Abenteuer ohne transzendente Perspektive in ein Epos verwandelt, das in der Lehre gipfelt: »Du sollst nicht in Regression verfallen«. Solange sie aber – wie etwa Philippe Descola – als Teil der Ambition ihres wissenschaftlichen Feldes aus fernen Welten Materialien mitbringen, aus denen sich eine universelle Anthropologie ableiten lässt, bleiben sie ein Teil unseres Epos vom Fortschritt. Wir können uns zwar von der ersten »rationalen« Definition der Natur bei den griechischen Philosophen oder von der monotheistischen Definition des Menschen – geschaffen nach dem Vorbild Gottes und Herr über die ganze Schöpfung – distanzieren, doch im Donnergetöse der widersprüchlichen Argumente der Wissenschaftler sind wir einfach nur Zuschauer, die in sicherem Abstand eine vertraute Situation erkennen: Wissenschaftler fühlen sich berechtigt, die Ansprüche der Rationalität zu entziffern und über die Überzeugungen aller anderen zu herrschen. Neurowissenschaftler können freiweg die Wahrheit dessen leugnen, worauf wir so stolz sind: Freiheit oder Rationalität. Anthropologen können freiweg behaupten, dass unser »Naturalismus« eines der vier menschlichen Schemata ist, die das organisieren, womit wir alle zu tun haben: die menschliche und die nichtmenschliche Natur.1 Wir können uns natürlich fragen, ob die neuronale Erklärung ein Fall von »Naturalismus« ist oder ob unser Ordnungssystem als Ergebnis neuronaler Attraktoren erklärt werden sollte. Aber was wir wissen, ist, dass »wir«, die wir keine ausgewiesenen Wissenschaftler sind, in diese Auseinandersetzungen ebenso wenig eingreifen können wie einst ein Sterblicher in die Streitereien der olympischen Götter. Selbst Philosophen, wiewohl Nachfahren der griechischen Vernunft, oder Theologen, wiewohl Erben des monotheistischen Glaubens, haben kein Mitspracherecht. Ganz zu schweigen von der alten Dame mit Katze, die behauptet, dass ihre Katze sie versteht. Wissenschaftler mögen zwar uneinig sein, wie wir uns irren, aber...
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Irene Albers (ed.), Anselm Franke (ed.)
Animismus
Revisionen der Moderne
Softcover, 320 pages
PDF, 320 pages
Der »Animismus« ist eine Erfindung der Ethnologie des 19. Jahrhunderts, geprägt auf dem Höhepunkt des europäischen Kolonialismus. Animisten bevölkern die unbelebte Natur mit Seelen und Geistern. Das erklärt man als eine die materielle Realität verkennende »Projektion«, durch die den Dingen und der Natur Leben und Handlungsmacht zugeschrieben wird. Animismus wird so zum Gegenbild moderner Wissenschaft, zum Ausdruck eines »Naturzustands«, in dem Psyche und Natur als ungeschieden gelten. Wenn sich letzthin ein neues Interesse am Animismus herausgebildet hat, liegt das nicht daran, dass der Begriff als wissenschaftliche Kategorie rehabilitiert wurde. Vielmehr ist die kategorische Trennung von subjektiver und objektiver Welt selbst in Bewegung geraten.