User account

Die Familie abschaffen

Marie Glassl, Sophie Lewis

Stellvertretende Abschaffung
Sophie Lewis im Gespräch mit Marie Glassl

Published: 08.06.2023

EN

Marie Glassl: Sophie, warum und in welchem Kontext hast du begonnen zum Thema Leihmutterschaft zu arbeiten?


Sophie Lewis: Ich habe mich während meiner Promotion in Humangeographie intensiv mit den Kategorien »Arbeit« und »Natur« beschäftigt – und mit der Möglichkeit, dass das, was wir als Natur bezeichnen, eigentlich nicht vom Bereich der Arbeit zu trennen ist. Mit der Untersuchung zur Arbeit der Natur, wollte ich einen Beitrag zu bestehenden ökomarxistischen und »außer-humanistischen« Forschungsansätzen leisten und untersuchen, inwiefern bestimmte Formen von Arbeit etablierte politisch-ökonomische Gegebenheiten stören könnten.

So kam ich schlussendlich zum Nullpunkt der Produktion des Menschen: der Schwangerschaft. Es wird ständig von Geburt und Geburten gesprochen, aber die eigentliche Arbeitsleistung, die Fabrikation von Föten, wird dabei meist ausgeklammert.

Es ist immer noch schwierig, die Themen Schwangerschaft und Arbeit miteinander in Beziehung zu setzen. Es scheint einfacher, zunächst die Figur der Lohnarbeit in der Schwangerschaft zu isolieren. Kommerzielle Leihmutterschaft war für mich ein Weg, die über- und außermenschliche Dimension aller Schwangerschaften zu erforschen. Schwangerschaft ist ein großartiges Beispiel für Donna Haraways These, dass das, was wir als menschlich bezeichnen, immer bereits eine Beziehung zwischen mehreren Arten ist.


MG: Müssten wir so weit gehen zu sagen, dass es keinen wirklichen Unterschied zwischen einer »natürlichen« Geburt und einer Leihmutterschaft gibt, da beides »kapitalistische Funktionen der Gebärmutter« sind: Produktion des Menschen? Ist, was die Menschen am wenigsten akzeptieren wollen, der Aspekt, dass es keine natürliche oder notwendige Bindung zwischen einer Mutter und ihrem Baby gibt – dass das, was wir Liebe nennen, selbst produziert wird?


SL: Das stimmt. Die Naturalisierung bestimmter Arbeiten (vor allem der Pflege- und Affekt-Arbeit) ist ein geschlechtsspezifischer Mechanismus, dessen Sichtbarmachung sehr schmerzhaft ist. Im Kapitalismus können wir die Vorstellung, Produkt der Arbeit anderer zu sein, generell schwer ertragen. Wir bevorzugen die metaphysische Sprache einer notwendigen oder natürlichen Verwandtschaft: ein Konzept automatischer Schöpfung, das auf einem Blut- oder DNA-Fetisch beruht, der alle Nachkommen(schaft) als geistiges Eigentum und Privateigentum darstellt.

Zu Beginn von Full Surrogacy Now habe ich die Schönheit, aber auch die Gefahr und Gewalt von Schwangerschaft beschrieben: »Es ist ein Wunder, dass wir Föten in uns hineinlassen«. Aber es ist nicht so, dass es meiner Meinung nach »keinen wirklichen Unterschied« gibt zwischen dem, was wir als Leihmutterschaft bezeichnen, und dem, was es heißt, »ein Baby zu bekommen«. Du hast Recht: Ich wollte zeigen, dass der Unterschied zwischen den beiden Dingen im bio-klinischen Kapitalismus, der die Arbeitskraft von...

  • ethics
  • communism
  • feminism
  • motherhood
  • body
  • gender
  • community
  • political theory

My language
English

Selected content
English

Marie Glassl

Marie Glassl works as dramaturg, curator, author and translator. Since her studies in literature and philosophy in Frankfurt a.M. and Venice, she works primarily at the interface between the performative arts and discourse. Her practice and research are particularly focused on materialities of language and current entanglements of aesthetics and language politics as well as early Italian feminist art tradition. In 2024 she is artistic director of the interdisciplinary project On Wasted Grounds that she organizes together with Diaphanes. She is co-editor of transdisciplinary and multilingual magazine DIAPHANES where she also presents a series of interviews with current practitioners from the arts and discourse. She has been lecturer and moderator for conferences and festivals between the arts and science with Akademie der Künste Berlin, Royal College of Arts London, Migros Museum Zürich, Chronos Foundation and Bolzano Danza. In her performative practice she collaborates with transdisciplinary artists, institutions and museums worldwide like Emma Waltraud Howes, Constanza Macras/ Dorkypark or the Venice Biennale. At Diaphanes she translates poetry and political theory from Italian and English currently texts by Ines & Eyal Weizman, Roberto Esposito, Allison Grimaldi Donahue and NourbeSe Philip. From 2024 she translates and co-edits the works of Alice Ceresa into German and works on an upcoming Performance Reader together with Johannes Odenthal.
Sophie Lewis

Sophie Lewis

Sophie Lewis is a writer living in Philadelphia. Their analyses of feminist anti-utopianisms, octopusdocumentaries, and heterosexual televisual artifacts have been published in journals such as n+1, Harper's, The New York Times, The London Review of Books, and Boston Review. Sophie is the author of Full Surrogacy Now: Feminism Against Family, and more recently of Abolish the Family: A Manifesto for Care and Liberation. Previously, Dr Lewis studied English (and then environmental theory) at Oxford University and earned a PhD in human geography at the University of Manchester. As a member of the faculty of Brooklyn Institute for Social Research, Sophie teaches courses on feminist theory, trans and queer politics, and antiwork philosophy, online and open to all. A Visiting Scholar at the University of Pennsylvania’s Center for Research on Feminist, Queer and Transgender Studies, Sophie is nevertheless a freelance writer. Their lectures, podcast appearances and essays are archived at lasophielle.org.