Magdalena Marszałek
Neuer Realismus im Theater: Milo Rau
»Man soll nicht probieren in der Kunst, man soll wetten«1 – Milo Rau mag kein Theater mit geregelten Arbeitszeiten. Statt ums ›Probieren‹ geht es um Recherchereisen, Suche nach Zeugen, Archivarbeit, langwierige Interviews, um Aktion, Herausforderung und Risiko. Die im Jahr 2007 von ihm gegründete Produktionsgesellschaft International Institute of Political Murder (IIPM) hat bisher über ein Dutzend theatrale Projekte hervorgebracht: Performances und Theateraufführungen, begleitet von multimedialen Dokumentationen und Supplementierungen – mit Büchern, Kongressen, Filmen und Ausstellungen. Formate, in denen die »Bearbeitung historischer oder gesellschaftspolitischer Konflikte«2 am IIPM erfolgt, experimentieren mit unterschiedlichen Formen des Dokumentarischen sowie mit verschiedenen Effekten des theatralen Realismus. Wie vielfältig die künstlerischen Zugänge zum Realen im Theater Milo Raus auch sind, lassen sie jedoch eine ›Signatur‹ erkennen, die seine Projekte von anderen gegenwärtigen ›Dokumentarismen‹ im Theater unterscheidet, etwa von der dokumentarischen Collage-Technik Hans-Werner Kroesingers oder von Rimini Protokolls Theater der ›Experten des Alltags‹.
Was ist es aber, woran man Milo Raus Theater erkennt? Es ließe sich als einen Überschuss bezeichnen: Dieser entsteht, wenn durch die Intensität der Vorbereitung und der Arbeit mit den Darstellern – Laien und professionellen Schauspielern – ihre ›Rollen‹ Teil ihres Lebens werden, wenn durch rekonstruktive Wiederholungspraktiken, die einigen Projekten Raus zugrunde liegen, das Wiederholte ›gespenstisch‹ zurückkehrt oder Phantasmen des Reversiblen freisetzt, wenn die multimediale Dokumentation der performativen Arbeiten diese spiegelnd vervielfältigt und dabei auch ihre Widersprüche beleuchtet, wenn mit jedem neuen Projekt die Arbeitsweise des vorherigen erweitert, transformiert oder überwunden wird. Milo Rau setzt auf die affektive Wirkung jenes Überschusses: der emotionalen Aufladung der ins Spiel investierten Arbeit und ihrer Effekte. Der Realismus seines Theaters gründet in einer dezidierten Abkehr von der Postmoderne: »Es hat sich auskritisiert, es hat sich ausdekonstruiert. Vielmehr muss etwas konstruiert werden aus dem ideologischen Trümmerfeld, vor dem wir stehen.«3 Es gibt keine Rückkehr in die ›Unschuld‹ der vergangenen Repräsentationskunst, es geht aber auch nicht darum, dieses kritische Bewusstsein im ständigen Verweisen auf die Nähte zwischen Wirklichkeit und Darstellung, Fakt und Fiktion zu manifestieren. Die Aufgabe der Kunst nach der Postmoderne sei vielmehr eine andere: »der existenziellen Realität des Lebens auf Augenhöhe zu begegnen«.4
Milo Rau hat selbst einen Begriff für seine Kunst in einem Manifest von 2009 gefunden: die Unst: »Die Unst sammelt, kopiert, zeigt. Die Unst...