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Bice Curiger: Pipilotti Rist und die elektronische Urhütte
Pipilotti Rist und die elektronische Urhütte
(p. 109 – 117)

Pipilotti Rist definiert den neuen Weltmittelpunkt

Bice Curiger

Pipilotti Rist und die elektronische Urhütte

PDF, 9 pages

Der Körper ist ein Haus, und der Staat ist ein Haus, und die Welt und der Kosmos. Wie im Schweizer Kindervers mit der inversen Blickrichtung, „Es isch emal en Maa gsii, de hätt en hohle Zah gha, und i dem hohle Zah isch es Chischtli gsii, und i dem Chischtli isch es Briefli gsii, und i dem Briefli isch gstande, es isch emal en Maa gsii, de hätt en hohle Zah gha …“, ist der Ausgangspunkt die unmittelbare erste Behausung aus Fleisch und Blut bzw. Zahn und Knochen.


Auch die Video-Künstlerin Pipilotti Rist startet alle ihre räumlich-mentalen Unternehmungen von dieser Grundstation aus. Und da sie mit elektronischen Apparaten hantiert, die locker als Körperverlängerungen gelesen werden können, baut sie in ihrer Arbeit den fließenden Übergang von den archaischen in die technoid-modernen Verschachtelungen als perpetuelles Subthema ein. 


In einem frühen Video-Tape singt Pipilotti Rist – in Anlehnung an einen ­Beatles-Song (Happiness Is a Warm Gun) – I’m Not The Girl Who Misses Much (1986) und hüpft und tanzt wie eine hinter elektronischem Milchglas agierende Marionette mit dunklem Kleid und entblößter Brust, willig sich den Verlang­samungen und elektronischen Störeingriffen fügend. Ein beklemmend fröhliches Kinderspiel. Und wir verfolgen dies an einem Bildschirm, der ein Kasten ist mit Fenster und buntem Innenleben. Ein Haus. Wir sind angekommen in der elektronischen Urhütte der kollektiv gelebten Erinnerung und mit Pipilotti Rist im Blutraum unser aller Eingeweide oder der ins All katapultierten Weichteile. Das braucht Erklärung.


„Unsere Augen sind blutbetriebene Kameras“, sagte Rist einst. In Entlastungen (Pipilottis Fehler) von 1988 emanzipiert sich die Bildstörung zum herrischen Formmeister von Exekutionsphantasien, indem, begleitet von Trommelsound, die gestörten Zeilenkonglomerate als grellbunte Guillotinen heruntersausen auf Rists Mund, Augen, Körper etc. 


Pipilotti Rist macht seit langem auch raumfüllende Videoinstallationen, begehbare Bilder mit hypnotischem Sog. Sie funktionieren als Ausdehnung von Innenleben, etwas nach außen Gestülptes, Verflüssigtes, worin man baden kann. Diese Installationen finden in Kunsträumen statt, Museen, Kunsthallen, Galerien. Häusern, die gesellschaftliche Zwischenräume darstellen, in welchen man als Künstler wie Betrachter nur höchst vorübergehend ankommt. Gleichsam um diesem ambulanten Kunst-Dasein einen Ausdruck zu verleihen, konzipierte die Künstlerin ihre Wanderausstellung Remake of the Weekend (1998/99) als uferlose Wohnung. Darin verbreitete als Endpunkt ein sehnsüchtig aufgeladenes, gleißendes Schlafzimmer eine Stimmung wie in How to Marry a Millionaire, wo sich alle Kernszenen am Abend in den obersten Etagen von Wolkenkratzern abzuspielen scheinen. Ein glänzend, in weißem Lackleder gepolstertes Bett gab optischen Halt in der Mitte des dunklen Raumes, der von einer starken...

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Nanni Baltzer (ed.), Jacqueline Burckhardt (ed.), ...: Art History on the Move

Das Thema »On the Move« ist in vielschichtiger Weise mit Kurt W. Forster verbunden, dem dieser Band gewidmet ist. Es charakterisiert die Geistes- und Lebenshaltung dieses Architektur- und Kunsthistorikers, der über epochale, mediale und disziplinäre Grenzen hinweg forscht: Mit Leichtigkeit bewegt er sich zwischen Pontormo und John Armleder, Giulio Romano und Frank Gehry, K. F. Schinkel und Mies van der Rohe, Aby Warburg und W. G. Sebald, W. H. Fox Talbot und Andreas Gursky. Er interessiert sich für den Zusammenhang von Musik und Architektur wie für den Schaffensprozess von Architekten. »On the Move« beschreibt ferner die biographische Situation Forsters, der an der Stanford University, dem MIT, der ETH Zürich oder der Bauhaus Universität Weimar unterrichtete und aktuell an der Yale School of Architecture tätig ist. Als Lehrer hat er Generationen von Studierenden für die uneingeschränkte curiositas begeistert, als Direktor des Schweizer Instituts in Rom, des Getty Research Center in Los Angeles oder des Canadian Centre for Architecture in Montreal den Austausch unter Forschenden gefördert. Zudem kuratierte er prägende Ausstellungen wie die Architekturbiennale 2004 in Venedig.

Die unterschiedlichen Beiträge des Bandes sind ein Spiegel von Forsters jahrzehntelanger Tätigkeit: Architekturthemen erstrecken sich von den Anfängen des Markusdoms in Venedig über Charles De Waillys Pariser Panthéon-Projekt, das Thomas Jefferson Memorial, den Barcelona-Pavillon Mies van der Rohes oder die Architekturfotografie im faschistischen Italien bis zu Achsen und ihren Brüchen in Paris und Berlin. Analysen im Bereich der Bildkünste behandeln Momente kollektiven Erinnerns in Fra Angelicos Fresken ebenso wie Pipilotti Rists elektronische Urhütte oder Laurie Andersons »Dal Vivo«. Literarische Auseinandersetzungen umfassen etwa Nietzsches Venedig-Gedichte, verschollene Briefe von Nabokov oder die Hauptstädte Walter Benjamins. Zudem enthält der Band zahlreiche persönliche Erinnerungen sowie architektonisch-künstlerische Interventionen.

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