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Christian Demand: Verklärung und Beschämung
Verklärung und Beschämung
(p. 97 – 110)

Zur Sprache der Kunstkritik

Christian Demand

Verklärung und Beschämung
Zur Sprache der Kunstkritik

PDF, 14 pages

Im Streit um die Frage, ob die Kunst kommentierungsbedürftig sei, sind frühe Debattenbeiträge wie diejenigen von Arnold Gehlen (dafür) oder Susan Sontag (dagegen) bis heute prägend. Die mengenmäßig größte Explosion der Kunstschriftstellerei kam jedoch erst danach. Und gibt spätestens seit den 90er Jahren Anlass, darüber zu staunen, was Sprache alles kann. So ist eine Sprache, die Kunst thematisiert, ohne auf Kriterien wie Klarheit, Nachvollziehbarkeit oder Argumentierbarkeit allzustark zu achten, trotzdem funktional: nämlich dann, wenn es zu den Funktionen der Kunstschriftstellerei gehört, Nebelschwaden der Verklärung zu verbreiten und so diejenigen Rezipienten zu beschämen, die schon immer wahrzunehmen meinten (aber nicht zu sagen wagten), dass der Kaiser keine Kleider trägt.

Es gibt gegenwärtig wohl kein künstlerisches Feld, in dem der Kommentar zum Werk einen auch nur annähernd vergleichbaren Umfang angenommen, geschweige denn eine ähnlich große Bedeutung erlangt hätte wie in der bildenden Kunst. Undenkbar der Besuch eines Museums, einer Messe, einer Galerie ohne pädagogische, wissenschaftliche, belletristische oder schöngeistig essayistische Seh­hilfen – mehr denn je ist unser Blick »umgeben und vorbereitet durch einen ganzen Hof von Kommentaren, selbst bei den neuesten Werken«.1

An der Entwicklung des Ausstellungskatalogs lässt sich anschaulich verfolgen, welch umfassende Schwerpunktverschiebung hier stattgefunden hat. Die Gattung entstand in den 1670er Jahren im Zuge der neu ins Leben gerufenen Publikumsausstellungen der königlichen Kunstakademie im Salon Carré des Pariser Louvre. Da die Wandflächen damals vollständig mit Gemälden bedeckt waren, wurden zur besseren Orientierung schmale Heftchen gedruckt, aus denen Künstler, Titel und genaue Lage jedes Exponats hervorging, denen darüber hinaus aber selten mehr als einige wenige erläuternde Zeilen zu den Werken beigegeben waren.2

Heute hat sich der Ausstellungsführer in eine Kommentarsammlung verwandelt. Die Begleitmaterialien zu den vergangenen documenta-Veranstaltungen etwa erschienen jeweils in mehreren kiloschweren Bänden. Die Verantwortlichen der documenta 11 beispielsweise blendeten der eigentlichen Ausstellung vier ­sogenannte »Plattformen« vor – in gespenstischem Umfang textgenerierende Diskussionsveranstaltungen, die nicht so sehr eine Schau der Gegenwartskunst vorzubereiten schienen als vielmehr den Eindruck er­weckten, die Kuratoren nutzten die anstehende Ausstellung lediglich als willkommenen Anlass, öffentliche Aufmerksamkeit auf die eigene Theorieproduktion zu lenken. 


Längst gibt es kuratierende Kunstschriftsteller und kunstschriftstellernde Kuratoren, die bekannter sind als die Künstler, die sie präsentieren. Dass vielen Künstlern und auch so manchem Kunstfreund das nicht gefällt, leuchtet ein. Sie deuten die Kunstbegleitliteratur als Verfallsphänomen. Unter den spezifischen Bedingungen des zeitgenössischen Kulturbetriebs, so der Gedankengang, bemächtigt sich das Sekundäre der Ressourcen an Geld und öffentlichem Interesse, die legitimerweise dem Primären zukommen sollten: Das Gerede überwölbt das Werk. Das Remedium bestünde folglich im bewussten Verzicht auf jeglichen Kommentar. 


Diese Auffassung, die ideengeschichtlich in der Goethezeit wurzelt,3 ist im zeitgenössischen Kulturbetrieb häufig anzutreffen. Die wesentlichen Argumente, die dafür bis heute aufgeboten werden, finden sich bereits in Susan Sontags einschlägigem Essay Against Interpretation aus dem Jahr 1964, in dem der »Strom der Kunstinterpretationen« mit den »Abgasen der Autos und der Schwerindustrie« verglichen wird. Der Kommentar, so Sontag, vergifte »unser ­Empfindungsvermögen«, er sei nichts als ein »Duplikat«, das uns von der Beschäftigung mit dem Original, der direkten sinnlichen Aus­einandersetzung mit der Sache selbst abhalte.4 So plausibel eine solche Position gerade vor dem Hintergrund des heute allgegenwärtigen Misstrauens gegen die Vermittlungsleistung...

  • art criticism
  • reception
  • contemporary art
  • hermeneutics
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Christian Demand

studied philosophy and politics and graduated from the German School of Journalism. He worked as a musician and composer, later as a radio journalist at the Bavarian radio station Bayerischer Rundfunk. Following his doctoral dissertation and habilitation in philosophy he taught at the University for Applied Arts in Vienna as guest professor for philosophical aesthetics. In 2006 he was offered the chair for art history at the Academy of Visual Arts in Nuremberg, where he taught until 2012. Since 2012 he has been editor of the magazine »Merkur«.

Ruedi Widmer (ed.): Laienherrschaft

Ruedi Widmer (ed.)

Laienherrschaft
18 Exkurse zum Verhältnis von Künsten und Medien

Softcover, 320 pages

Inkl. Mit Zeichnungen von Yves Netzhammer

PDF, 320 pages

Die vielfach geforderte Freiheit des Einzelnen, Kunst nach eigenem Gutdünken zu rezipieren, zu genießen, aber auch zu produzieren und damit zu definieren, ist heute weithin Realität geworden. Wir leben im Zeitalter der Laienherrschaft in den Künsten und den mit ihnen verbundenen Medien: einem Regime, das auf der Dynamik der Massen-Individualisierung und dem Kontrollverlust etablierter Autoritäten beruht, in dem jede Geltung relativ ist und die Demokratisierung in ihrer ganzen Ambivalenz zum Tragen kommt.

Die Essays und Interviews des Bandes kreisen um die Figur des Kulturpublizisten. Wie wirken Ökonomisierung und Digitalisierung auf sein Selbstverständnis ein? Wie sieht es mit der gegenwärtigen Rollenverteilung zwischen Publizist und Künstler aus? Wie verhält sich der Publizist gegenüber dem immer eigenmächtiger auftretenden Rezipienten? Der zeitgenössische Kulturpublizist tritt als Diskursproduzent und als Weitererzähler flüchtiger Wahrnehmung auf; doch auch als Interpret, der als Leser und in diesem Sinne als »Laie« seine Stimme entwickelt – jenseits aller Reinheits- und Absicherungsgebote, die etwa die Wissenschaft aufstellt. Eine Kultur des Interpretierens als eine von der Laienperspektive her gedachte Kultur der Subjektivität, der Aufmerksamkeit, der Sprache und der Auseinandersetzung mit den Künsten ist in Zeiten der Digitalisierung eine unschätzbar wertvolle, omnipräsente und zugleich bedrohte Ressource.

Mit Zeichnungen von Yves Netzhammer.

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