Welcher Status wird literarischen Beispielen in Folge der methodologischen Neubestimmung der wissenschaftlichen Psychopathologie zugewiesen, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts streng zur Beobachtung und zum Verzicht auf Hypothesen und Theorien verpflichtet? Während die klinische Falldarstellung stark aufgewertet wird, kommt Beispielen aus der Literatur zunächst einmal nur ein geringer Erkenntniswert zu. Sie dienen in Lehrbüchern eher dazu, den Diskurs an den literarischen Kanon anzuschließen, um die Disziplin zu nobilitieren. Das ändert sich erst mit Karl Jaspers Schrift über den Eifersuchtswahn (1910), die ein Krankheitsbild beschreibt, das sich nosologischen Bestimmungen gänzlich entzieht und die Individualität der Erkrankung in den Mittelpunkt rückt. Nachdem allgemeine Nosologie und individueller Fall, Krankheit und Patient nicht länger zwei divergenten epistemologischen Niveaus zugeordnet sind, kann das Beispiel ein bis dahin unbekanntes ›Potential‹ entfalten und die Literatur einen Status im psychopathologischen Wissen erlangen.