Reisezeiten: Übergriffe der Ethnografie
In Tristes Tropiques, dem bahnbrechenden ethnografischen Reisebericht, der 1955 veröffentlicht und international gefeiert wurde, beginnt der große Anthropologe Claude Lévi-Strauss die Schilderung seiner legendären Forschungsreise in das Landesinnere von Brasilien in skeptischem Ton: »Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende. Trotzdem stehe ich im Begriff, über meine Expeditionen zu berichten.« Trotz seines hybriden Formats – einer Kombination aus Memoiren, Reiseliteratur und Ethnografie – entwickelte sich Tristes Tropiques zu einem Bestseller. Das Buch fand eine Leser_innenschaft, die weit über ein Nischenpublikum von Expert_innen hinausging, und etablierte seinen Autor umgehend als bedeutende Figur auf den Feldern der Anthropologie und des Strukturalismus. Das Werk er-schien an einem historischen Wendepunkt, nicht nur im Hinblick auf die Veränderungen der Anthropologie durch den Strukturalismus – auf Grundlage einer Analyse der Gesellschaft anhand der Strukturen von Sprache und Kultur –, sondern auch weil es in einer Periode der Nachkriegszeit vorgestellt wurde, als die Ethnografie sich durch die großen Bewegungen der Entkolonialisierung wandelte. Die in der Disziplin stattfindenden Veränderungen erforderten nicht nur ein Umdenken in Bezug darauf, wie anthropologische Methoden (Feldforschung als teilnehmende Beobachtung) und Diskurse (ethnografisches Schreiben) das Verständnis kolonisierter Gesellschaften und ›entlegener‹ Kulturen prägen, sondern auch eine Neubewertung des zugrunde liegenden Systems der kolonialen Moderne, aus der sich die zentrale Entwicklungsdynamik in der Interaktion zwischen europäischen und nichteuropäischen Kulturen ergab.
Auch wenn er keine Inkarnation der dramatischen Neuordnung des modernen Systems war, enthielt der Titel des Buches, Traurige Tropen, in seiner Narration doch ein gewisses Maß an Elegischem. Sein wesentlicher Punkt war, dass die Übergriffe der Moderne von einer Vielzahl fragiler Gesellschaften, die nur über begrenzte Mittel verfügten, um ihren dunkleren Motiven zu widerstehen, teuer bezahlt werden mussten. Ein weiterer aufschlussreicher Aspekt des Buchtitels ist die Tatsache, dass die Erzählung allein von der Traurigkeit der Tropen ausgeht und Europa von solchem Unbehagen ausnimmt. Die Subtilität dieses Unterschieds versinnbildlicht die prinzipielle Dichotomie, von der die ethnografische Zunft seit über einem Jahrhundert heimgesucht worden war, nämlich dass die anthropologische For-schung auf einem räumlichen Modell aufbaut, das die Distanzen zwischen nah und fern ausmisst. Tristes Tropiques legt diese Dichotomie offen. In flüssigem literarischem Stil verfasst, ist das Buch voller Geschichten, die mit ebenso persönlichen wie professionellen, bewussten wie unbewussten Unterscheidungen arbeiten. Der Bericht umfasst verschiedene Formen der Selbstethnografie vermittels Erzählungen über Lévi-Strauss’ Familie, das französische Ausbildungssystem und dessen soziale Hierarchien, linke Politik in Paris, eine kurze Abschweifung zum Surrealismus, zur Kunst und so weiter. Im Mittelpunkt stehen jedoch...