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Mathias Prinz: 1990
1990
(p. 99 – 111)

›Knall‹, ›Blitz‹ und ›Erleuchtung‹

Mathias Prinz

1990
Die Urknalltheorie als Erfindungsmotiv bei Friedrich Dürrenmatt

PDF, 13 pages

Die überlieferten Konzepte des Urknalls sowie diejenigen der (literarischen) Erfindung weisen einige Gemeinsamkeiten auf. In Das Hirn beschreibt Friedrich Dürrenmatt ein menschliches Gehirn, welches das Universum, anstelle des Urknalls, durch eine Reihe von Erfindungen hervorbringt. Indem das Hirn schließlich dort angelangt, wo Dürrenmatt es, Das Hirn schreibend, erfindet, gerät die Hierarchie der Erzählebenen ins Wanken; es wird anhaltend unklar, wer hier wen erfindet. Allerdings sind sowohl das Urknallmodell als auch der literarische Text Das Hirn jeweils das Ergebnis eines Entstehungs- und damit auch eines Erfindungsprozesses. Der Beitrag rekonstruiert die unterschiedlichen Ebenen der Thematisierung von Erfindungen und setzt sie miteinander in Beziehung.

1990
Die Urknalltheorie als Erfindungsmotiv
bei Friedrich Dürrenmatt

Die Konzepte des Urknalls – der rapiden Ausdehnung von Materie, Raum und Zeit, deren Erstreckung wir das Universum nennen – sowie der Erfindung weisen Ähnlichkeiten auf. Bei beiden handelt es sich um Phänomene, die sich nicht direkt beobachten lassen. Beide erhalten ihre Bestimmung, der Anfang von etwas gewesen zu sein, erst nachträglich. Es sind somit Bezeichnungen für Geschehnisse, die aus der Perspektive der Gegenwart nur als bereits vergangene, wenn auch für die Gegenwart nach wie vor prägende, beschrieben werden können. Beide verweisen somit zurück auf den angenommenen oder unterstellten Ursprung eines Prozesses, wobei dieser entweder als schon abgeschlossen oder aber als immer noch andauernd begriffen werden kann. Beide verweisen außerdem auf Ereignisse, die im Wesentlichen von einer folgenreichen Plötzlichkeit bestimmt sind – das zeigt schon das gemeinsame Wortfeld ›Knall‹, ›Blitz‹ und ›Erleuchtung‹. Bei beiden handelt es sich um ein Modell zur Beschreibung eines Entstehungsprozesses, das seinerseits, in seiner Entstehungsgeschichte, als Erfindung beschrieben werden kann. Beide blicken auf eine lange Geschichte der Mystifikationen zurück und bleiben anfällig, auch weiterhin Gegenstand von Mystifikationen zu werden.

Im Rahmen der Arbeit an seinem autobiographischen Projekt Die Stoffe beginnt Friedrich Dürrenmatt 1986 damit, die Urknalltheorie literarisch zu bearbeiten. Der aus dieser Arbeit resultierende Text mit dem Titel »Das Hirn« erscheint im Rahmen des zweiten und letzten Bandes der Stoffe. Dieser wird 1990 unter dem Titel Turmbau. IVIX publiziert und ist gleichzeitig Dürrenmatts letzte Buchveröffentlichung vor seinem Tod im Dezember desselben Jahres. In »Das Hirn« fingiert Dürrenmatt ein menschliches Hirn, das anstelle des Urknalls am Ausgangspunkt des Universums verortet wird und Stück für Stück aus sich selbst heraus das Universum erfindet.

Damit ist das thematische Feld der folgenden Überlegungen eröffnet: Von Interesse ist erstens die Erfindungsgeschichte des Urknallmodells, zweitens die Fiktionalisierung dieses Modells durch Friedrich Dürrenmatt, drittens die Erfindungsgeschichte dieser Fiktionalisierung und viertens die Erkenntnis über den Begriff der Erfindung, die sich aus dem Vorherigen gewinnen lässt.


Die Erfindung der Urknalltheorie durch den belgischen Theologen und Priester Georges Edouard Lemaître lässt sich auf den Zeitraum zwischen 1927 und 1931 datieren. In seinem Aufsatz »Un univers homogène de masse constante et de rayon croissant, rendant compte de la vitesse radiale des nébuleuses extra-galactiques« (Lemaître 1927) deutet er das Phänomen der »Rotverschiebung« (so nennt man die Verkürzung der Wellenlänge von elektromagnetischen Wellen, im kosmologischen Fall verursacht durch die Ausdehnung der Raumzeit) als Effekt einer konstanten Ausdehnung des Universums. Leitend ist dabei die Annahme, dass die beobachtete Geschwindigkeit der Flucht eines Objektes von der Distanz zwischen Objekt und Beobachter abhängt.

Da Lemaîtres Text in einem vergleichsweise unbedeutenden belgischen Fachmagazin erscheint, erfährt diese vielleicht wichtigste Entdeckung der Kosmologie des 20. Jahrhunderts für zwei Jahre keine große Beachtung, bis der US-amerikanische Astronom Edwin Hubble in seinem Aufsatz »A Relation between Distance and Radial Velocity among Extra-Galactic Nebulae« (Hubble 1929) – erschienen am 15. März 1929 im renommierten Wissenschaftsmagazin PNAS – anhand von ausführlichen Messungen dieselbe Relation zwischen Distanz und Geschwindigkeit nachweist, ohne dass er allerdings den Text von Lemaître gekannt hätte. Der prominentere Erscheinungsort von Hubbles Artikel wird dafür sorgen, dass diese Relation nach ihm als »Hubble-Konstante« (engl.: »Hubble’s Law«) benannt wird. Ohne Groll veröffentlicht Lemaître schließlich die englische Übersetzung seines Textes 1931 unter dem Titel »A Homogeneous Universe of Constant Mass and Increasing Radius accounting for the Radial Velocity of Extra-Galactic Nebulae« (Lemaître 1931a) und bezieht sogar die Messungen Hubbles in seine Argumentation ein.

Im Mai desselben Jahres veröffentlicht Lemaître außerdem einen weiteren kurzen Artikel. Dieser trägt den Titel »The Beginning of the World from the Point of View of Quantum Theory«, erscheint im Wissenschaftsmagazin Nature und gilt als erste Ausformulierung der Urknalltheorie. Lemaîtres Argumentation basiert auf zwei Grundannahmen der Quantenphysik: »Thermodynamical principles from the point of view of quantum theory may be stated as follows : (1) Energy of constant total amount is distributed in discrete quanta. (2) The number of distinct quanta is ever increasing.« (Lemaître 1931b, 706) Aus diesen beiden Grundannahmen zieht Lemaître einen Umkehrschluss: »If we go back in the course of time we must find fewer and fewer quanta, until we find all the energy of the universe packed in a few or even in a unique quantum.« (ebd.)


Die Argumentation ist einfach: Wenn die konstante Gesamtmenge der Energie auf eine stetig ansteigende Anzahl von Quanten verteilt ist, muss diese Energie, wenn man diesen Anstieg gedanklich in der Zeit zurückverfolgt, einmal in wenigen oder sogar in nur einem Quant vereinigt gewesen sein. Ein halbes Jahr später reagiert Lemaître in einem dritten Artikel auf die von James Jeans proklamierte Steady-State-Theory, die Anfang des 20. Jahrhunderts die direkte und ernst zu nehmende Konkurrentin der – noch nicht so benannten – Urknalltheorie war:

»I PROPOSE to give some answer to the two questions raised by Sir James Jeans, which so clearly summarise the present state of the problem of the evolution of the universe. […] The expansion of the universe is a matter of astronomical facts interpreted by the theory of relativity, with the help of assumptions as to the homogeneity of space, without which any theory seems to be impossible. […] I shall rather try to show that the universe must be expanding, or rather that the most necessary processes of evolution are contradictory to the view that space is and has always been static.« (Lemaître 1931c, 704)

Lemaître argumentiert, dass jeder Zustand von Verdichtung in einem System, in dem das Prinzip der Energieerhaltung gilt, Expansion auslösen müsse. Im Modell eines statischen Universums sei also Expansion nicht möglich, weil dort die Summe von Druck und – daraus folgend – kinetischer Energie überall gleich null sein müsse. Ausgehend von dieser Erkenntnis formuliert Lemaître die schon im Mai veröffentlichte These noch einmal deutlicher:

»A complete revision of our cosmological hypothesis is necessary, the primary condition being the test of rapidity. We want a ›fireworks‹ theory of evolution. The last two thousand million years are slow evolution: they are ashes and smoke of bright but very rapid fireworks. […] I would picture the evolution as follows: At the origin, all the mass of the universe would exist in the form of a unique atom; the radius of universe, although not strictly zero, being relatively very small. The whole universe would be produced by the disintegration of this primeval atom.« (Lemaître 1931c 705)

Den populären Namen ›Big Bang‹ bekommt diese Theorie vom britischen Astronomen Fred Hoyle – der ironischerweise selbst Vertreter der Steady-State-Theorie ist – im Rahmen einer populärwissenschaftlichen Diskussion im Radio der BBC (→ Hoyle 1949). Der Konkurrenzkampf zwischen den beiden Theorien über die Entstehung des Universums tobt noch etwa zwanzig Jahre weiter, bis Arno Penzias und Robert Woodrow Wilson 1964 durch einen Zufall erstmals die kosmische Hintergrundstrahlung beobachten konnten, die von Vertretern der Urknalltheorie vorhergesagt wurde und heute als Beweis für dieselbe anerkannt wird. Stephen Hawking wird diese Entdeckung später den »Nagel im Sarg der Steady-State-Theorie« nennen (Hawking 2003, 109).

Die materialen Voraussetzungen, welche die hier von Lemaître geleisteten theoretischen Operationen prägen, sind der Suche nach dem anfänglichen Moment einer Erfindung erstaunlich ähnlich. Da es Lemaître unmöglich ist, den Moment der Entstehung des Universums direkt zu beobachten – er liegt immerhin sehr weit in der Vergangenheit –, deutet er die ihm vorliegenden Beobachtungen als Folgen eines solchen Moments und schließt daraus umgekehrt auf dessen Beschaffenheit. In seinem Fall stehen ihm die als Ausdehnung des Universums gedeutete Rotverschiebung, die Theorie der Energieerhaltung, aber auch die Vermutung der erst später beobachteten kosmischen Hintergrundstrahlung zur Verfügung. Im Falle von Erfindungsprozessen, die maßgeblich auf dem Papier stattfinden, können entsprechende Anhaltspunkte Vorstufen, Notizen, Tagebucheinträge, Verlegerkorrespondenzen, Paratexte oder Ähnliches sein.

In seinem Spätwerk, den Stoffen, beschäftigt sich Friedrich Dürrenmatt – herkömmliche Formen der Autobiographie explizit ablehnend – auf literarische Weise mit sich selbst: »Wenn ich trotzdem über mich selbst schreibe, so nicht über die Geschichte meines Lebens, sondern über die Geschichte meiner Stoffe; denn in meinen Stoffen drückt sich, da ich Schriftsteller bin, mein Denken aus […].« (Dürrenmatt 1998a, 13) Insbesondere das Unfertige, nicht endgültig Bearbeitete interessiert Dürrenmatt: »Gehe ich aber von meinem Leben aus, tauchen hinter meinen geschriebenen Stoffen die ungeschriebenen auf. Sie ruhen in meinem Gedächtnis, durch die Zeit mehr oder weniger undeutlich geworden, wie versunkene Gegenstände.« (Dürrenmatt 1998a, 14)

Bezieht man sich strikt auf die überlieferten Archivmaterialien, dann beginnt das Projekt in seiner dokumentarisch materialisierten Form 1964 mit der Arbeit an der eben zitierten Vorrede sowie einigen weiteren Versuchen (→ SLA m146, I, III, IV und V). 1966 formuliert Dürrenmatt dann eine Liste, die nüchtern die zu bearbeitenden Stoffe aufzählt (→ SLA m146, II). Es handelt sich um siebzehn Titel in einer linken und zwölf weitere in einer rechten Spalte, von denen schließlich nur drei dem Namen nach tatsächlich auch im publizierten Anteil des Stoffe-Projektes erscheinen werden. 1969 erleidet Dürrenmatt einen Herzinfarkt und scheidet aufgrund einiger Misserfolge aus der Leitung des Basler Theaters aus. Dürrenmatt nimmt diese Ereignisse zum Anlass, seine Arbeit an den Stoffen zu intensivieren (→ Probst 2008, 11). 1970 beginnt er schließlich einen ersten Entwurf in einen vom Diogenes Verlag zur Verfügung gestellten Blindband zu schreiben (→ SLA TB2). Während der erste Text – »Der Rebell« – in einem fast reinschriftlichen Zustand ist, vermehren sich im weiteren Verlauf die Streichungen und Auslöschungen, zunächst von einzelnen Wörtern, später von ganzen Seiten. Auf einigen Seiten arbeitet Dürrenmatt bewusst mit verschiedenen Schriftgrößen und Leerzeilen, als würde er schon den Satz des fertigen Buches vorbereiten, an anderen Stellen finden sich eher notizbuchhafte Listen samt eingeschobenen Gedichten.

Nur ein geringer Teil der Texte, die dieser Band enthält, wird später im Rahmen der Stoffe auch publiziert. Dennoch dokumentiert sich hier bereits das Nebeneinander von verschiedenen Schreibverfahren und Arbeitsschritten, welches das Projekt bis zu Dürrenmatts Tod prägen wird. Aufgrund seines Herzinfarktes 1969 und der ärztlichen Anweisung, nicht mehr mit der Schreibmaschine zu arbeiten, beginnt Dürrenmatt wieder von Hand zu schreiben. Sekretärinnen werden engagiert, die seine Handschriften wiederum für ihn abtippen. Das so entstehende Material wird von Dürrenmatt erneut handschriftlich bearbeitet, teilweise auch mit der Schere zerschnitten und mit Klebstoff neu arrangiert (→ Weber, Probst 2007, 6). Durch beständiges Hervorholen, Zurückstellen, Überarbeiten, Ein- und Ausgliedern von Texten oder Motiven in oder aus den/m Stoffe-Zyklus formiert sich ein hochgradig dynamischer Schaffensprozess, der sich der Planbarkeit durch seinen Autor zunehmend entzieht und sich mehr und mehr als unabschließbar erweist. So eröffnet Dürrenmatt den zweiten Band der Stoffe mit den Worten:

»Der Versuch, die Geschichte meiner Stoffe zu schreiben, verlangt ein neues Überdenken. […] Ich strich das Geschriebene durch, fing immer wieder von neuem an. Das ist zwanzig Jahre her, und ich sitze wieder hinter den Stoffen. Fragmente haben sich angehäuft, Entwürfe, aber auch Zweifel. Aus den wenigen Seiten, die in Schuls entstanden sind, ist ein Manuskriptdschungel herangewachsen.« (Dürrenmatt 1998b, 11)

Dieser »Manuskriptdschungel«, etwa 20.000 Manuskriptseiten (→ Weber 2002, 125), liegt heute, weitgehend unveröffentlicht, im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern.

Im Jahr 1986 – fünfundfünfzig Jahre nachdem Lemaître erstmals die Idee des ›primeval atom‹ postuliert hatte – beginnt Friedrich Dürrenmatt sich im Rahmen der Arbeit an und mit den Stoffen literarisch mit der Urknalltheorie auseinanderzusetzen. Die Idee entsteht bei der Arbeit an einem Text, der zunächst »Die Phileinser« heißt (→ SLA a37, I–II), nach der Entstehung des Urknall-Motivs in »Querfahrten« (→ SLA a37, IV–VI) und schließlich in »Das Hirn« umbenannt wird (→ SLA r113). Dessen Motive werden dann im Verlauf des Jahres 1988 in verschiedene Prosatexte aufgespalten, aus den übrigen Motiven gehen zwei Veröffentlichungen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (»Die Dinosaurier und das Gesetz« am 21.1.1989 sowie »Auto- und Eisenbahnstaaten« am 25.3.1989) sowie der erst postum veröffentlichte Text »Gedankenfuge« hervor (diese Aufspaltung dokumentiert sich insbesondere in SLA r114).

Die Auseinandersetzung mit dem Urknall erhält schließlich unter dem Titel »Das Hirn« eine eigene Bühne, wird noch verschiedentlich bearbeitet (1988 unter SLA r115; 1990 unter SLA r122) und findet 1990 als neunter und letzter Text Eingang in den Band Turmbau. Stoffe IVIX, der letzten Buchveröffentlichung Dürrenmatts vor seinem Tod am 14. Dezember desselben Jahres. In »Das Hirn« erfindet Dürrenmatt ein Hirn, das als Modell der Entstehung des Universums an die Stelle des Urknalls tritt:

»Wenn die moderne Kosmologie sich vorstellt, die Welt sei aus dem Nichts entstanden, als Explosion eines dimensionslosen Punkts, worin nicht nur alle Materie und Energie des Weltalls, sondern auch dessen Zeit und Raum zusammengezwängt waren, eine nur mathematisch mögliche Konstruktion, so können wir uns auch statt dieses rein hypothetischen Punktes ein reines Hirn vorstellen. Ein Hirn ohne Idee einer Außenwelt, weil es keine gibt; und wie das Weltall 16 Milliarden Jahre Zeit hatte, bis es seinen jetzigen Zustand erreichte, so hat dieses Hirn 16 Milliarden Jahre Zeit weiterzudenken […].« (Dürrenmatt 1998b, 235)

Dürrenmatt erkennt in der Tatsache, dass das Modell des Urknalls eine »Konstruktion« ist – also seinerseits erst erfunden werden musste – einen Raum für Fiktion. Demzufolge erzählt er die Entstehungsgeschichte des Universums als eine Abfolge von Fiktionen, als Denkgeschichte dieses Hirns: Es beginnt damit, die Zeit zu erfühlen, erfindet die Zahlen, Rhythmen und Töne, die Geometrie, entwickelt Bewusstsein, erdenkt die Materie, die Himmelskörper, die Urzelle, die Evolution und schließlich das menschliche Leben und dessen Historie, bis es bei Dürrenmatt selbst angelangt ist, den es sich in seinem Arbeitszimmer denkt, »Das Hirn« schreibend. Die sich daraus ergebende Unsicherheit, wer hier wen erfunden hat, schildert Dürrenmatt wie folgt:

»Ist Das Hirn meine Fiktion, die ich schreibe, oder bin ich die Fiktion des Hirns, die Das Hirn schreibt? Bin ich jedoch nur fiktiv, ist auch Das Hirn, das ich schreibe, fiktiv, aber auch wer Das Hirn liest und der Kritiker, der Das Hirn rezensiert, sind nur Fiktionen. Wer hat wen erfunden, gibt es mich überhaupt, gibt es nicht vielmehr nur ein Hirn, das eine Welt träumt als Abwehr gegen die Angst, eine erträumte Welt, in der einer aus dem gleichen Grunde schreibt, aus dem heraus ihn ein Hirn träumt? Aber auch das Hirn steht vor den gleichen Fragen und Antinomien. […] Doch ob das Hirn mich denkt, Das Hirn schreibend, oder ob ich Das Hirn schreibe, das mich denkt, gehört zum Unentscheidbaren aber Denkbaren. Es ist entweder möglich oder wirklich und nur nicht zu entscheiden, ob es möglich oder wirklich ist.« (Dürrenmatt 1998b, 257–258)

Auch der instrumentelle und räumliche Teil der Schreibszene, in der »Das Hirn« vorgeblich entsteht, wird beschrieben und in die Erzählung einbezogen: »Und so ist alles, was mich umgibt, möglich oder wirklich, der Bleistift, womit ich schreibe, das Papier, das ich mit meiner Schrift bedecke, der Tisch, worauf ich schreibe, die Bücher auf dem Tisch, sechs Duden, […] halb vollgeschriebene Blindbände, Gefäße mit Bleistiften [etc.].« (Dürrenmatt 1998b, 258; es scheint sich hier um eine wahrheitsgetreue Aufzählung zu handeln, denn eine Fotografie von Dürrenmatts Schreibtisch von 1991 zeigt einigermaßen genau die aufgelisteten Gegenstände, → Planta u.a. 2011, 346) Dieses so weit kohärente Gedankenspiel ist im Typoskript vom 2.11.1987 (→ SLA r113, IV) bereits weitgehend intakt, wird jedoch noch zweieinhalb Jahre liegen gelassen, bis Dürrenmatt dem Text am 21.5.1990 einen neuen, lediglich drei Seiten langen Schluss anfügt, der mit der bestehenden Textlogik bricht (→ SLA r122, I–II). Den Anlass dazu bildet ein Besuch im Vernichtungslager Auschwitz, den Dürrenmatt tatsächlich im Mai oder Juni desselben Jahres unternommen hat:

»Das alles ist denkbar, ob wirklich oder möglich. Aber ist oder wäre die Ratio dazu imstande? […] Dann fahren oder würden wir von Auschwitz nach Birkenau fahren, nach Auschwitz II. […] Es gibt Gelände, da hat Kunst nichts zu suchen. […] Der Ort wurde weder von meinem fingierten Hirn ausgedacht oder geträumt, […] und auch ich habe ihn nicht erdacht oder geträumt. Er ist undenkbar, und was undenkbar ist, kann auch nicht möglich sein, weil es keinen Sinn hat. Es ist, als ob der Ort sich selber erdacht hätte. Er ist nur. Sinnlos wie die Wirklichkeit und unbegreiflich und ohne Grund.« (Dürrenmatt 1998b, 261–263)

Selbstverständlich ist Dürrenmatts Kritik am eigenen Gedankenexperiment leicht angreifbar; immerhin war der Massenmord im Dritten Reich von einer Reihe von Autoritäten beabsichtigt und er wurde geplant – und damit in gewisser Weise erfunden oder ausgedacht. Die teils impliziten, teils expliziten Verweise auf den philosophischen Diskurs über das Verhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit sowie auf die Debatte rund um Adornos berühmt gewordenes Diktum »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch« (Adorno 1977, 30) stecken das Feld der Auseinandersetzung ab, auf dem Dürrenmatt sich bewegt. Dürrenmatt gibt sich allerdings kaum Mühe, seine neu gewonnene Perspektive auf das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit zu plausibilisieren. So scheint der später hinzugekommene Schluss des neunten Stoffes zunächst nur eine trotzige Absage an jenen Vorrang des Denkmöglichen zu sein, der den gesamten Text und auch die Arbeit daran bis zum Aufenthalt in Auschwitz bzw. bis zum Auftauchen dieses Ortes am Ende des Textes maßgeblich bestimmt hat. Martin Stingelin sieht gerade hierin die Stärke der Stoffe:

»Friedrich Dürrenmatts Größe […] besteht im Verzicht auf eine Poetik des Gelingens, das sich bei anderen Schriftstellern noch im Kunstvollen des Scheiterns erfüllt. Dürrenmatt unternimmt in den ›Stoffen‹ das Vergebliche in anderer Absicht: Die Unausweichlichkeit und Notwendigkeit des Scheiterns soll der chaotischen Komplexität dieser Welt wenigstens für Augenblicke eine faßbare Form abringen, ohne sich dagegen zu verschließen.« (Stingelin 2004, 259).

Stingelin versteht das Stehenlassen – und in der Konsequenz: das Veröffentlichen – einer auf den ersten Blick gescheiterten Erzählung als eine literarische Strategie, der ›chaotischen Komplexität der Welt‹ gerecht zu werden. Möglicherweise ist jedoch an anderer Stelle noch eine zweite, nicht weniger interessante Pointe zu suchen und zu finden.

In Dürrenmatts »Das Hirn« überlagern sich die impliziten und expliziten Thematisierungen der Erfindung auf mehreren Ebenen, die nicht ohne Weiteres in eine hierarchische Ordnung zu bringen sind. Zunächst und vom Umfang her am stärksten gewichtet beschreibt der Text einen seinerseits erfundenen Erfindungsprozess, bereinigt vom Moment des Zufalls. Da das Hirn mit nichts und niemandem außer seinen eigenen Einfällen konfrontiert ist, gibt es in seinem Erfindungsprozess keine materiell bedingten oder durch äußere Ereignisse provozierten Einschnitte. Die Denkgeschichte von Dürrenmatts »Hirn« ist hermetisch abgeschottet und dadurch bedingt auch in einer deterministischen Abfolge organisiert: Der eine Einfall bringt zwangsläufig den nächsten zustande, der wiederum einen Einfall zustande bringt, und so weiter.

Der Text ist allerdings auch Teil eines groß angelegten Produktionsprozesses, in dem ebenfalls erfunden wird. Einzelne Erfindungsmomente manifestieren sich in Notizen, Entwürfen oder Reinschriften, wobei diese Manifestationen durchaus den Anlass für weitere Erfindungsmomente bilden können. Doch geht hier nun nicht einfach der eine Moment aus dem anderen hervor: Die Umsetzung auf dem Papier ist diskontinuierlich, Widrigkeiten in der sprachlichen Ausarbeitung stellen sich ein und kontingente Faktoren aller möglichen Art bestimmen die Arbeit am Text mit, so etwa der Herzinfarkt. Im Gegensatz zum fiktionalen Erfindungsprozess, den das im Text entworfene »Hirn« aus sich heraus entspinnt, erweist sich Dürrenmatts Schreibprojekt als anfällig und somit offen für all das, was sich der Planung entzieht. In Gestalt des erfundenen »Hirns« spukt allerdings, zumindest bis zum Einbruch, zu dem es am Ende des Textes kommt, die Vorstellung eines folgerichtigen Erfindungs- und Entstehungsprozesses in Dürrenmatts Text und der Arbeit daran umso vehementer herum.

Diese Vorstellung findet in der Ideengeschichte der Physik eine Entsprechung im »laplaceschen Dämon«. Laplace schreibt 1814 im Vorwort seines Buches Philosophischer Essay über die Wahrscheinlichkeit:

»Wir müssen […] den gegenwärtigen Zustand des Weltalls als die Wirkung seines vorigen Zustandes und die Ursache des noch folgenden ansehen. Gäbe es einen Verstand, der für einen gegebenen Augenblick alle die Natur belebenden Kräfte und die gegenseitige Lage der sie zusammensetzenden Wesen kennte und zugleich umfassend genug wäre, diese Data der Analysis zu unterwerfen, so würde ein solcher die Bewegungen der größten Weltkörper und des kleinsten Atoms durch eine und dieselbe Formel ausdrücken; für ihn wäre nichts ungewiß; vor seinen Augen ständen Zukunft und Vergangenheit.« (Laplace 1819, 3–4)

Träfe dieses Modell zu, so wäre der gesamte Verlauf der Entwicklung des Universums bereits in seinem Ursprung festgelegt gewesen. Den heute weitreichend anerkannten Gegenbeweis hierzu lieferte die Entdeckung der Quantenmechanik in den 1920er Jahren. Werner Heisenberg hatte 1927 beispielhaft nachgewiesen, dass Impuls und Ort eines Elektrons und andere komplementäre Observablen nicht gleichzeitig scharf bestimmt werden können. Im Abschluss seiner Arbeit »Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik« schreibt Heisenberg:

»[A]n der scharfen Formulierung des Kausalgesetzes: ›Wenn wir die Gegenwart genau kennen, können wir die Zukunft berechnen‹, ist nicht der Nachsatz, sondern die Voraussetzung falsch. Wir können die Gegenwart in allen Bestimmungsstücken prinzipiell nicht kennenlernen. […] Da nun der statistische Charakter der Quantentheorie so eng an die Ungenauigkeit aller Wahrnehmung geknüpft ist, könnte man zu der Vermutung verleitet werden, daß sich hinter der wahrgenommenen statistischen Welt noch eine ›wirkliche‹ Welt verberge, in der das Kausalgesetz gilt. Aber solche Spekulationen scheinen uns, das betonen wir ausdrücklich, unfruchtbar und sinnlos. Die Physik soll nur den Zusammenhang der Wahrnehmungen formal beschreiben.« (Heisenberg 1927, 197)

Das Bestechende an dieser Argumentation ist, dass sie die Vorbedingung des laplaceschen Dämons falsifiziert. Die Frage, ob sich anhand eines lückenlosen Datensatzes die Kausalbeziehungen aller betroffenen Faktoren vollständig bestimmen lassen, stellt sich gar nicht erst, weil die Erstellung eines solchen Datensatzes vom Standpunkt der Quantenmechanik her prinzipiell unmöglich ist.

Die Unmöglichkeit, einen vollständigen Datensatz zu gewinnen, stellt ein anhaltendes, wohl grundsätzlich nicht zu lösendes Problem in der Beschreibung von Erfindungsmomenten auch im Bereich der Literatur dar. Zwar dokumentieren sich kreative Prozesse gegebenenfalls durch erhalten gebliebene Dokumente, allenfalls sogar durch explizite (Selbst-)Thematisierungen. Jedoch sind solche Zeugnisse nicht nur von Fall zu Fall sehr ungleichmäßig überliefert, wenn sie denn überhaupt überliefert sind; eine ganze Reihe von anderen bestimmenden Faktoren (Gemütszustände, Affekte etc.) hinterlassen in der Regel gar keine verwertbaren Spuren, und sie ließen sich außerdem kaum beobachten, ohne die Ergebnisse durch die Beobachtung selbst zu verfälschen. Zudem bleibt die Frage offen, welche Faktoren überhaupt als Teil des Erfindungsprozesses begriffen werden sollen. Angesichts dieser Komplikationen scheint es kaum sinnvoll, Erfindungsprozesse anhand von jeweils solitären Einfallsmomenten zu beschreiben oder diesen sogar eine lückenlose Kausallogik zu unterstellen.

Was man hingegen anstreben kann, ist eine Ausweitung des Blicks auf die Möglichkeit sowie auf die im Einzelfall durchaus vorhandenen Belege dafür, dass Erfindungsprozesse sich womöglich gerade aus denjenigen Faktoren speisen, die nicht grundsätzlich schon als bekannt oder planbar erscheinen, sondern als Einbrüche realer Störungen in Vorstellungswelten, die man zuvor als gesichert glaubte annehmen zu können. So gesehen wäre der Einbruch von Auschwitz am Ende von Dürrenmatts Text nicht einfach als Scheitern eines Erfindungsprozesses und seiner Logik zu begreifen, sondern – vielleicht unfreiwillig – als herbe Pointe des Textes, als Verdeutlichung der Tatsache, dass Erfindungen, auch literarische, keine wären, wenn man sie frei von Kontingenz aufs Papier zaubern könnte.

Literatur

— Adorno, Theodor W.: »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, Frankfurt am Main 1977.

— Burkhard, Philipp: Dürrenmatts »Stoffe«. Zur literarischen Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vaihingers im Spätwerk, Tübingen 2004.

— Dürrenmatt, Friedrich: Labyrinth. Stoffe IIII, Zürich 1998[a].

— Dürrenmatt, Friedrich: Turmbau. Stoffe IVIX, Zürich 1998[b].

— Hawking, Stephen: »Sixty years in a nutshell«, in: G.W. Gibbons, E.P.S. Shellard und S.J. Rankin (Hg.): The Future of Theoretical Physics and Cosmology, Cambridge 2003, S. 105–117.

— Heisenberg, Werner: »Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik«, in: Zeitschrift für Physik 43, Nr. 3, Berlin 1927, S. 172–198.

— Hoyle, Fred: Continuous Creation, Radiointerview, BBC, 28.3.1949.

— Hubble, Edwin: »A Relation between Distance and Radial Velocity among Extra-Galactic Nebulae«, in: PNAS (März 1929), S. 168–173.

— Laplace, Pierre-Simon: Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeiten, hg. von Karl Christian Langsdorf, Heidelberg 1819.

— Lemaître, Georges: »Un univers homogène de masse constante et de rayon croissant, rendant compte de la vitesse radiale des nébuleuses extra-galactiques«, in: Annales de la Societé Scientifique de Bruxelles, Brüssel 1927, S. 49–59.

— Lemaître, Georges: »A Homogeneous Universe of Constant Mass and Increasing Radius accounting for the Radial Velocity of Extra-Galactic Nebulae«, in: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society 91(1931[a]), S. 483–490.

— Lemaître, Georges: »The Beginning of the World from the Point of View of Quantum Theory«, in: Nature 127 (Mai 1931[b]), S. 706.

— Lemaître, Georges: [ohne Titel: »I PROPOSE to give some answer […]«], in: Nature 128 (Oktober 1931[c]), S. 704–706.

— Planta, Anna von u.a. (Hg.): Friedrich Dürrenmatt. Sein Leben in Bildern, Zürich 2011.

— Probst, Rudolf: (K)eine Autobiographie schreiben. Friedrich Dürrenmatts Stoffe als Quadratur des Zirkels, Paderborn 2008.

— Stingelin, Martin: »Ort, undenkbar. Friedrich Dürrenmatts Sicht vom Gehirn«, in: Christian Geyer (Hg.) Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt am Main 2004.

— Weber, Ulrich: Friedrich Dürrenmatt. Von der Lust, die Welt nochmals zu erdenken, Lausanne 2002.

— Weber, Ulrich und Rudolf Probst: »Das ist natürlich ein ziemliches Abenteuer«. Zur genetischen Edition von Friedrich Dürrenmatts Stoffen (2007), http://www.germanistik.ch/publikation.php?id=Genetische_Edition_Duerrenmatt (aufgerufen: 25.4.2014)


Sämtliche Verweise auf unveröffentlichte Handschriften Friedrich Dürrenmatts sind nach dem Siglensystem des Schweizerischen Literaturarchivs angegeben. Zum Beispiel: »r113« oder »TB2«: ›r‹ steht in diesen Fällen für ›Reinschrift‹, ›t‹ für ›Textbuch‹.

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Sandro Zanetti (ed.): Improvisation und Invention

Wenn eine Kultur etwas als Erfindung akzeptiert, dann hat dieses Etwas bereits den Status einer Tatsache erhalten, die vorhanden ist und auf ihren Nutzen oder auf ihre Funktion hin befragt werden kann. Was aber geschieht davor? Wie gewinnt das Erfundene Wirklichkeit? Wie in der Kunst, wie im Theater, wie in der Literatur und Musik, wie in der Wissenschaft? Und mit welchen Folgen? Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich alle mit einem Moment oder einem bestimmten Modell der Invention. Ausgehend von den jeweils involvierten Medien wird der Versuch unternommen, diese Momente und Modelle zu rekonstruieren. Um etwas über die entsprechenden Inventionen in Erfahrung bringen zu können, werden diese als Ergebnisse oder Effekte von Improvisationsprozessen begriffen: Improvisationen in dem Sinne, dass von einem grundsätzlich offenen Zukunftsspielraum ausgegangen wird, gleichzeitig aber auch davon, dass es ein Umgebungs- und Verfahrenswissen gibt, das im Einzelfall beschrieben werden kann.

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