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»seelenkaffeehaus‑hilfe«

Johanna Stapelfeldt

1998
Oskar Pastiors »Gewichtete Gedichte«

PDF, 13 pages

Durch seine Oulipo-Kollegin Michelle Grangaud wird Oskar Pastior mit einem poetischen Verfahren der Buchstabengewichtung in Berührung gebracht, das mit der Einführung einer sprachfernen Zahlenlogik den Schreibprozess gezielt aus dem Gleichgewicht geraten lässt und quasi zur Improvisation zwingt. Da sich dieser Zustand der Orientierungslosigkeit im eigenen Vokabular allerdings nicht dauerhaft erhalten lässt, muss das Verfahren selbst ins Zeichen des Werdens gesetzt werden. Das oulipotische clinamen, der durch die Überdeterminierung des Schreibens herbeigeführte Verstoß gegen die selbstgesetzte Regel, bietet hier einen Ausweg aus einer drohenden Stabilisierung des Schreibens, der ewigen Wiederholung des Immergleichen. Es wird damit zur Bedingung der Möglichkeit einer Entstehung des Neuen und Unvorhergesehenen.

1998
Oskar Pastiors Gewichtete Gedichte

In einem Brief vom 24. Januar 1998 übersendet Michelle Grangaud ihrem Oulipo-Kollegen Oskar Pastior ein Namensgedicht und damit gleichzeitig eine »alpha-ordinatorische« (GG, 8) Konstruktionsformel zur Generierung potentieller Gedichte, die nach folgendem Schema funktioniert: Jedem Buchstaben eines gegebenen Ausgangsmaterials (in diesem Fall des Eigennamens »Oskar Pastior«) wird ein Zahlenwert zugeordnet, der durch die Position des jeweiligen Buchstabens im Alphabet festgelegt ist [O=15, S=19, K=11, A=1, R=18, P=16, A=1, S=19, T=20, I=9, O=15, R=18]. Die durch Addition dieser Buchstabenwerte gebildete »Schlüsselzahl« (GG, 11) [162] dient nun als ›Code‹ bzw. ›Transformator‹ für jede neu zu bildende Gedichtzeile. Seiner Begeisterung für dieses »Hexen-Einmaleins« (GG, 8), das in der Formvorgabe einer »gleichgewichtetheit der zeilen« (GG, 35) mit dem bereits mehrfach erprobten »egalitären Buchstabenanagramm« (GG, 16) verwandt ist, verleiht Pastior sogleich Ausdruck in Form eines Namensgedichtes, das er am 5. Februar 1998 der ›Erfinderin‹ des Verfahrens auf postalischem Weg zusendet:

»140
Michelle Grangaud
der zahlengedanke:
arbitraeres auge,
wie es dich macht
zehn forellen,
elftausend igel
oder elf poeten;
im zufall – das dach
neunzehn tage,
tausend naechte
und eine idee milch.« (GG, 8)

Dieses Gedicht bildet das erste dokumentierte Zeugnis und damit den Auftakt zu einer langjährigen praktischen und theoretischen Auseinandersetzung mit dem Verfahren der Gewichteten Gedichte, deren schriftliche Spuren in einer Chronologie der Materialien zusammengetragen und 2006 zur Publikation gebracht wurden. Darin lässt sich nachvollziehen, wie Pastior das Verfahren zunächst im Bereich des Halbprivaten mithilfe von Namensgedichten erprobt, die er, von Reflexionen über das Verfahren begleitet, an Freunde und Kollegen verschickt. Auffällig an diesem ersten Stadium der Verfahrensaneignung ist, dass Pastior es in beinahe keinem seiner Briefe versäumt, darauf hinzuweisen, wer den »oulipotische[n] Transformator« (GG, 16) ›erfunden‹ hat (→ GG 9, 11, 12, 16, 22 und 23), wenngleich Grangaud nicht im eigentlichen Sinn als ›Erfinderin‹ des Verfahrens gelten kann – zumindest dann nicht, wenn ›erfinden‹ verstanden werden soll als die plötzliche oder allmähliche Verfertigung einer absolut neuartigen Sache, Maschine oder Methode, eines nie zuvor dagewesenen Gedankens oder Prinzips.

Denn das isopsephische bzw. gematrische Bestimmen der Zahlenwerte von Wörtern und Wortgruppen lässt sich bis in die Antike nachweisen und hat zudem eine lange Tradition in der Bibelauslegung der jüdischen Mystik (→ Dornseiff 1925, 95; → Luz 2010, 247–248). Sowohl die Isopsephie als auch die Gematrie zielen darauf ab, Wörter oder Wortgruppen aufzufinden, denen die gleiche pséphos oder gematria, also derselbe Zahlenwert, zugeordnet werden kann und die damit in gewisser Hinsicht als gleichwertig gelten können. Beide Traditionen lassen sich auf die Doppelfunktion der griechischen und hebräischen Buchstaben zurückführen, die auch als Zahlzeichen Verwendung fanden. Als Wurzel verschiedener Formen der Zahlen- und Buchstabenmystik kann deshalb die ursprüngliche Ungeschiedenheit bzw. Verwobenheit beider Zeichensysteme gelten, deren Leistungsfähigkeit für kosmologische und arithmomantische Deutungspraktiken wahrscheinlich erstmals in der pythagoreischen Zahlenmystik erkannt und systematisiert wurde (→ Dornseiff 1925, 11–14). Ausgehend von der Beobachtung, dass ein Zusammenhang zwischen der jeweiligen Länge einer Saite und dem durch sie angeschlagenen Ton besteht und demnach sich Töne auch als numerische Relationen beschreiben lassen, entwickelten die Pythagoreer bekanntlich eine ganze Kosmologie, die auf numerischen Äquivalenzen basiert. Auf ihrer spekulativen Suche nach Analogien und Entsprechungen zwischen Zeichen und Kosmos, die sich nicht nur auf Zahlen und Töne bezog, sondern auch auf den Bereich der Grammatik ausdehnte, machten die Pythagoreer erstaunliche Entdeckungen: etwa den Zusammenhang zwischen den sieben ionischen Vokalen und dem Siebengestirn oder den zwei mal zwölf Buchstaben des ionischen Alphabets und den zwölf Tierkreiszeichen.

Das offensichtlich Spekulative an der Methode, das sich aus der Spannung zwischen der strengen Gesetzmäßigkeit des numerischen Umrechnens und einer gewissen Freiheit bezüglich der konkreten Anwendung dieser Rechengesetze ergab, brachte den Anhängern der pythagoreischen Lehre schon zu Lebzeiten einige Kritik ein. Die außerordentliche Produktivität ihrer Technik lässt sich jedoch auch so deuten, dass mit der Zeichengewichtung das Potential von Zahlen, Ungleiches gleich zu machen und weit Auseinanderliegendes in Beziehung zu bringen, erkannt und auf das Verhältnis zwischen Sprache und Kosmos übertragen wurde. So erwachsen gerade aus der leitenden Überzeugung, Zeichensysteme und ihr Verhältnis zur Welt seien nicht arbiträr, sondern würden vielmehr einer verborgenen Zahlenlogik gehorchen, die den gesamten Kosmos strukturiert, höchst überraschende, um nicht zu sagen unvorhergesehene Relationen zwischen den Wörtern, den Zahlen und der Welt. Die Buchstabengewichtung zeigt damit einen Weg auf, wie man mithilfe eines Zeichenkalküls »Birnen und Äpfel zusammenzählt« (Pastior 1991, 103), was Pastior wiederum in seinem Namensgedicht für Ingomar von Kieseritzky poetisch reflektiert:

»einhundertzwanzig birnen
oder neunundzwanzig aepfel –
und alles geht auf zwanzig« (GG, 10)

Obwohl nun Grangauds Wiederfindung und gleichzeitige Umdeutung dieser Zeichenpraxis in einen poetischen Text- und Ideengenerator eine sukzessive Loslösung von deren mythischen und kosmologischen Ursprüngen erwarten lässt, ist der Dokumentation von Pastiors Verfahrensaneignung eine gegenläufige Tendenz anzumerken. Wo er zunächst darauf insistiert, die Gedichte seien ganz und gar »unorakelhaft«, »weder ein Horoskop noch ein Orakel«, muss er allmählich eingestehen, »das Hexische an dem Verfahren nicht« leugnen zu können (GG 12, 13 und 15). Die magische Wirkungskraft der Buchstabengewichtung scheint durch deren Formalisierung – und damit ohne eine sie stützende Kosmologie – nicht verloren zu gehen, sondern entpuppt sich als Resultat eines Zeichenkalküls.

Die von Grangaud und Pastior betriebene Aktualisierung jener ursprünglich mythischen Zeichenpraxis kann auch als paradigmatischer Fall für das gelten, was die Oulipoten ein ›antizipatorisches Plagiat‹ nennen. Mit dieser paradoxen rhetorischen Wendung eines sogenannten hysteron-proteron wird die Einflussrelation zwischen historischen Vorläufern und nachfolgenden ›Trittbrettschreibern‹ sowohl zeitlich als auch kausal auf den Kopf gestellt. Damit sprechen die Oulipoten nicht nur sich selbst das Recht auf eine genialische Urheberschaft ihrer Methoden ab, sondern auch ihren ›Wahlahnen‹. Jedes Schreiben ist in ihren Augen plagiiert und sei es als Vorwegnahme des Zukünftigen.

Ob Grangaud oder Pastior über die historischen Hintergründe des von ihnen verwendeten Schreibverfahrens Kenntnis hatten, ist deshalb für dessen inventorischen Status irrelevant. Denn ohne das Wissen des Schreibenden scheint in den Zeichen- und Aufschreibesystemen selbst ein Wissen gespeichert und erinnert, das durch den Schreibakt aktualisiert und immer wieder neu erfunden werden kann. So kommt Pastior erst im Laufe seiner schreibenden Auseinandersetzung mit dem Verfahren den kosmologischen und mythischen Ursprüngen der Buchstabengewichtung auf die Spur und spricht deshalb auch von einem »unvordenkliche[n] Wissen einer selber unerinnerten Erfahrung« (GG, 73). Von der hinterrücks und unbeabsichtigt sich einschleichenden Vorhersagekraft der Namensgewichtung angestoßen, stellt er Recherchen an über den Ursprung der Reihenfolge des Alphabets. Denn sie allein ist verantwortlich für den jeweiligen Wert eines Zeichens, der sich aus dessen Position im Alphabet ergibt. Auf dieser Suche stößt er unter anderem auf ein Manuskript des Assyriologen Fritz Hommel, das die Form und Reihenfolge der alphabetischen Buchstaben aus Sternbildern abgeleitet darstellt und erstmals in den Gewichteten Gedichten ediert vorliegt. Über diese nachträgliche Entdeckung des kosmologischen Ursprungs seiner verfahrensbasierten Schreibpraxis schreibt er im Nachwort des Bandes Folgendes: »ich konnte also genauso gut zuerst in den Apfel beißen und ihn dann erst pflücken, und die Schwierigkeit mit der eigenen Umständlichkeit dabei für eine unverstandene Eigenschaft des Apfels halten.« (GG, 79)

Mit dieser Beschreibung der Umkehrung einer sonst üblichen kausalen Abfolge von Handlungsschritten ist auf den Punkt gebracht, was für poetische Inventionsprozesse im Allgemeinen geltend gemacht werden kann: In einem Schreibprozess scheint die Idee nicht am Anfang zu stehen, sondern erst im Nachhinein als solche erkennbar zu werden. Ebenso weist die Wendung des ›antizipatorischen Plagiats‹ darauf hin, dass ein Vorläufer immer erst nachträglich zu einem solchen ernannt werden kann. Wir haben es in beiden Fällen mit einer kausalen Verschaltung von Momenten des Anfänglichen zu tun, die selbst einen Prozess auslösen, der sie erst rückwirkend zu dem macht, was sie vorgeben, von Anfang an gewesen zu sein. Die Chronologie der Materialien der Gewichteten Gedichte kann nun als ein Versuch gelesen werden, diese verwickelte Kausalität von Inventionsprozessen zu rekonstruieren. Die beiden parallel laufenden Stränge der Gedichte selbst sowie ihrer poetologischen Reflexion zeugen dabei davon, wie die »vom ungeruchen zauber aus der gleichgewichtetheit der auf unlinearen umwegen (holterdiepolter, nut und tagewerk) generierten zeilen« erst nachträglich »in die leselust ihrer kuriosen historizität geraten« (GG, 37).

In einem Brief vom 5. September 2002 an Oswald Egger, den späteren Herausgeber der Gewichteten Gedichte, unternimmt Pastior so beispielsweise den Versuch, ex post das Aufkommen einer Abwandlung oder Erweiterung der Gewichtungsregel – nämlich die »idee der transformation in beiden richtungen zwischen zahlwort und gewichtungszahl« (GG, 36) – auf die anfängliche Begegnung mit dem Verfahren zurückzudatieren: »was mir rückblickend auffällt, ist das jonglieren mit zahlenwörtern […] bereits im ersten text mit eigennamen, ›140 : michelle grangaud‹« (GG, 35). Dort war, wie wir uns vielleicht erinnern, von »zehn forellen, / elftausend igel / oder elf poeten;« die Rede. Für seinen Beitrag zum Literaturboten 56/57 »Hundert Stimmen für ein Jahrhundert« (Dezember 1999/März 2000) variiert er dann zum ersten Mal Grangauds Gewichtungsregel dahingehend, dass das Umschreiben der Jahreszahl 1982 als Zahlwort »Neunzehnhundertzweiundachtzig« und ein anschließendes Bestimmen des Wortwerts 373 zum Einsatzpunkt für eine potentielle Rekursionsschleife der gegenseitigen Transformation von Wort und Zahl werden, deren Möglichkeiten Pastior zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht weiter verfolgt. Erst später beginnt er, »neugierig, was herauskommt,« verschiedene Schlüsselwerte als Zahlworte umzuschreiben, deren Wort-Gewicht er wiederum bestimmt. Dieses Prozedere einige Male wiederholend, stellt er fest, dass »nach einer unbestimmten zahl von transformationen […] jedes mal dann eine schlaufe ein[tritt], in der die transformationsakte, so wie es aussieht, sich im zehnerpack wiederholen, das ergebnis also leicht verstörend« (GG, 27).

Auf poetischem und nicht intendiertem Weg entdeckt Pastior damit eine Regelmäßigkeit im Zusammenspiel numerischer und alphabetischer Zeichensysteme, die der Mathematiker Ralph Kaufmann in einem Nachwort zu den Gewichteten Gedichten nachträglich erklärt: Jede (deutschsprachige) Zahl-Wort-Folge tritt, wenn sie gemäß der pastiorschen Rekursionsgleichung gebildet wird, früher oder später, d.h. nach einer gewissen Anzahl an Transformationsschritten, in folgende Oszillations-Periode der Größe Elf ein: »Hundertvierundsechzig« [260], »Zweihundertsechzig« [230], »Zweihundertdreiszig« [250], »Zweihundertfuenfzig« [247], »Zweihundertsiebenundvierzig« [342], »Dreihundertzweiundvierzig« [324], »Dreihundertvierundzwanzig« [325], »Dreihundertfuenfundzwanzig« [323], »Dreihundertdreiundzwanzig« [307], »Dreihundertsieben« [180], »Hundertachtzig« [164], »Hundertvierundsechzig«, was wiederum den Wert 260 hat. Unabhängig davon, nach wie vielen Transformationsschritten die Folge auf eines der Glieder in dieser Kette stößt, tritt sie in die Oszillationsperiode ein – oder aber sie wird, sollte sie auf einen der beiden Fixpunkte »Zweihundertfuenf« [205] oder »Zweihundertsieben« [207] treffen, nicht periodisch, sondern stationär. Durch »die Iteration [wird] die Entropie des Wortes« erhöht, so Kaufmann in seinem Nachwort, es wird »durch einen dynamischen Prozess statistisch verteilt« (GG, 54).

Sobald er diese Regelmäßigkeit bzw. Vorhersehbarkeit entdeckt hat und sich damit das Wort-Zahl-System stabilisiert, lässt Pastior auch sogleich von seinem Experiment ab. Wie seine gleichgesinnten Oulipo-Kollegen ist er an automatisierten Verfahrensweisen und deren vorhersehbaren Ergebnissen wenig interessiert und grenzt sich entschieden von solchen Schreibkonzepten ab, die ausschließlich auf der Instrumentalisierung von Automatismen oder aleatorischen Prinzipien beruhen, wie es beispielsweise im surrealistischen Programm einer écriture automatique (→ Beitrag zum Jahr 1941 in diesem Band) oder in den Anfängen der Maschinenliteratur der Fall war. In Opposition zu solchen Schreib-Automatismen, die stets nur die Mechanismen der Maschine oder der Sprache selbst reproduzieren und somit zu vorhersehbaren Ergebnissen führen, sind die Oulipoten auf der Suche nach Verfahren, die trotz oder gerade wegen ihrer Regelhaftigkeit die unvorhersehbarsten und »unwahrscheinlichsten poetischen Texte hervorbringen« (Lajarrige 2000, 298; → Beitrag zum Jahr 1960 in diesem Band). Ihr Ziel ist es, mithilfe einer Determinierung der Schreibweise Indeterminiertheiten im Schreibprozess und dessen Ergebnissen zu erzeugen.

Die im Kreis der Oulipoten übliche Anwendung von strengen Regeln im Schreibprozess zeugt von der Ansicht, dass Unvorhersehbarkeit und Indeterminiertheit nicht dem Zufall überlassen werden darf. In diesem Sinn beschreibt Chris Bezzel auf einem Symposium zum Anagramm, an dem auch Pastior teilgenommen hat, seine Auseinandersetzung mit dem Verfahren unter anderem als »arbeit am zufall, die aufhebung von zwang und regel durch übertreibung des regelhaften« (Bezzel 1988, 9). Mit dieser Spannung zwischen Zufall und Berechnung spielt auch Pastior, wenn er die Arbitrarität des gewichteten Namensgedichts für Péter Esterházy – »alles Babel-Fabel-Fund, alles / Zufaelle, magere Bodies, / […] (Ob er diese Zufaelle mag?)« – mit einem darauf folgenden Kommentar relativiert: »aber es sind ja keine echten Zufälle« (GG, 14). Was Sabine Scholl in Bezug auf das Verfahren des Anagrammierens behauptet, wäre deshalb auch auf die Gewichteten Gedichte anwendbar: »Das Ergebnis ist kein Zufall, vielmehr wird der Zufall produziert« (Scholl 1988, 67).

Im Falle von Pastiors Gewichteten Gedichten lässt sich diese regelgeleitete Produktion des Zufälligen und Unvorhergesehenen folgendermaßen formulieren: Ähnlich wie beim Anagramm muss das Ausgangsmaterial restlos in jeder neu konstruierten Zeile aufgehen, wobei die Gleichheit der Zeilen bei der Buchstabengewichtung durch das »numerische Handikap der Reihenfolge« des Alphabets definiert wird. Mit dieser Einführung einer sprachfernen Ordnungslogik als leitendes Prinzip wird das Verfahren »direktional unterminiert, furchtbar launisch determiniert und sogar asymptomatisch verbogen« (GG, 16). Es handelt sich also zunächst um ein Verfahren, das die sprachlichen Selektions- und Verknüpfungsregeln, die bei der Herstellung eines Gedichtes am Werk sind, einem nicht-sprachlichen Prinzip folgend einschränkt.

Was die Selektion betrifft, dürfen nur diejenigen Worte zum Einsatz kommen, deren Wert kleiner/gleich der Schlüsselzahl ist. Die gewichtete Schreibweise durchbricht damit Zuordnungsmuster verfügbarer Vokabulare und versetzt den Schreibenden in eine Situation der Orientierungslosigkeit sowie der Tantalusqual, »mitten unter wörtern keine zu haben« (GG, 38). In einem Brief an Oswald Egger vom 2. September 2002 beschreibt Pastior diesen Zustand rückblickend wie folgt:

»in einem numerisch äquivalenten alphabet bzw. in seinen alphabetischen zahlenäquivalenten zu denken lehrt nur der vokabulare fund und wiederfund im vorderen alphabet- und niedrigen zahlenbereich tappend, von schritt gar noch keine rede, verallgemeinerungen greifen da nicht, begriffliche strategien sind unpraktikabel geworden, probieren geht über intendieren.«

In dieser willentlich herbeigeführten Notsituation – »tugend und not sind, hat man sich einmal entschlossen, alles mit der hand im kopf zu machen, eng beieinander« (GG, 37) – ist der Schreibende im wahrsten Sinne des Wortes zur Improvisation gezwungen: Weil jedes Wort, jede Silbe neu errechnet werden muss, sind nur lokale Brückenschläge möglich, sowohl was das Wiederfinden altbekannter Wörter betrifft als auch das Erfinden neuer Wortkombinationen und ‑schöpfungen; entsprechend beschränkt ist das Vokabular zu Beginn der Arbeit mit dem Verfahren, da jedes Verfügbarmachen eines Wortes mit einem enormen Zeitaufwand verbunden ist.

Die syntaktische Anordnung der neu errechneten Worte ist wiederum dadurch eingeschränkt, dass erstens nur bestimmte Worte in einer Zeile miteinander kombiniert werden können, jede Wortwahl also den Kombinations- und Möglichkeitsspielraum verkleinert, und zweitens die Position der Worte, die gemeinsam den Schlüsselwert ergeben, nur innerhalb einer Zeile getauscht werden kann, um das harmonische Gleichgewicht zwischen den Zeilen zu wahren. Durch diese sprachfremde Herstellungsregel wird die sprachlich-syntaktische Ordnung an die »Grenze des Sprachlichen selbst« (Deleuze 1993, 152) gedrängt. Das Ergebnis einer solchen Durchkreuzung der Regelhaftigkeit des Sprachlichen mithilfe einer gezielten Überdeterminierung der Verfahrensweise ist »[k]eine formale oder Oberflächensyntax, sondern eine werdende Syntax, eine syntaktische Schöpfung, die die fremde Sprache in der Sprache hervorbringt, eine Grammatik des Ungleichgewichts« (151).

Doch in der von Pastior bespielten Kluft zwischen einer Welt der Wörter und der Zahlen, diesen beiden »weit auseinanderklaffenden Terrains« (GG, 64) und scheinbar nicht zu vereinbarenden Ordnungssystemen, beginnen sich allmählich neue Muster und Formen der Bezugnahme abzuzeichnen. Schon Gerhard Rühm bemerkte in Bezug auf den methodischen Inventionismus (→ Adrian 1957), ein durch H.C. Artmann vermittelter Schreibansatz »chilenischer anarchisten«, der auf einem »organisierten zufall« und einer »›berechnenden‹ erfindung« basiert, »dass es schlicht unmöglich ist, etwas über einen ersten desorientierungsschock hinaus sinnlos (zusammenhanglos) bleibendes herzustellen«. Denn, so Rühm, »aus anfänglichem begriffsflimmern stabilisieren sich doch wieder bilder« (Rühm 1980, 761). Auch bei Pastior addieren sich die zunächst nur partikularen und singulären Fundstücke mit der Zeit zu einem Fundus, der Orientierung und Ordnung in das ›alpha-ordinatorische‹ Chaos der ersten Stunde bringt: »langsam baut sich in den unterlagen etwas wie ein wörterbuch auf. noch ist es alphabetisch angelegt und zeigt die bisher gemachten funde.« (GG, 36)

So finden beispielsweise die gleichgewichteten Wörter zu »Himmel« und zu »Hölle«, die Pastior als Beitrag für ein Heft zum Thema »Himmel und Hölle« (Herbst 2001–Sommer 2002) zusammengestellt hat, später wieder Verwendung in seiner Danksagung zur Verleihung des Peter-Huchel-Preises (2001). Dort kombiniert er die Himmel-Wörter [60] mit dem Wortwert 39 und die Hölle-Wörter [57] mit einem Gewicht von 42, sodass die neu entstandenen Wortkombinationen sich zu einem Gesamtwert von 99 addieren, was wiederum der gematria des Wortes »Danksagung« entspricht. Die Chronologie der Materialien dokumentiert damit auch, so könnte man sagen, den Übergang von einem herrschenden sprachlichen Ordnungssystem, das mithilfe eines Verfahrens aufgebrochen wird und zunächst in einen Zustand der Orientierungslosigkeit führt, zu neuen Ordnungsmustern und Bahnungen.

Auf der ewigen Suche nach einem »aus der Ordnung laufende[n] Knackpunkt beim Reden einer Sache die nur so entsteht wie davon geredet, kurzum gedacht wird«, die »in Richtung aus einer Norm in eine andere, mögliche« (Pastior 1994, 91–92) verläuft, sucht Pastior gezielt nach solchen temporären Umschlagspunkten zwischen Ordnung und Chaos. Daraus erklärt sich auch die Entscheidung für eine Publikation der ersten Schritte in der Begegnung und Auseinandersetzung mit einem neuen Verfahren: »wahrscheinlich kriegt die erkenntnisdimension des ganzen unterfangens wirklich nur in den interessant unbedarften ersten schritten ihre dichte gewichtung; und auch nur so lange; in meinem fall diese dreizehn ergebnisse des lernens in statu nascendi« (GG, 38). Um diesen status nascendi zu wahren, um zu verhindern, dass sich die Sprache in einem Gleichgewicht stabilisiert, muss aber nicht nur der Schreibprozess, sondern auch das Verfahren offen gehalten werden für äußere Störungen.

Denn wenn es darum geht, die Sprache vor der Erstarrung zu einem System zu bewahren und damit das Schreiben frei von Automatismen zu halten, ist allein mit der Erfindung und schlichten Befolgung einer Regel wenig gewonnen. »Das Verfahren ist uninteressant« (Pastior 1987, 116), schrieb Pastior deshalb einmal mit Bezug auf das Anagrammieren, es ist nur Ermöglichungsgrund für die jeweilige Realisierung einer Regel im Prozess des Schreibens. Der Verlauf eines solchen Schreibprozesses kann aber nur dann auf lange Sicht dynamisch bleiben, wenn nicht nur die Sprache und das Schreiben, sondern auch das Verfahren selbst aus dem Gleichgewicht gerät. Nur wenn die Regel und ihre Anwendung rekursiv verschaltet sind und gegenseitig aufeinander einwirken, wird sich der Schreibprozess langfristig ebenso unberechenbar gestalten, »wie die Grammatik [d]er Verstöße gegen die Verstöße [d]er Semantik gegen die Verstöße unvorhersehbar sind.« (Pastior 1994, 92)

Dass dies in Gewichteten Gedichten der Fall ist, wird erst auf einen zweiten Blick und im Nachvollzug der Textgenese erkennbar. Macht man nämlich die ›Hexenprobe‹ und fühlt dem, was Pastior im Kopf und auf dem Papier in mühsamer Handarbeit errechnet hat, auf den Zahn, wird man feststellen, dass die selbst gesetzte Regel in beinahe keinem der Gewichteten Gedichte nach Strich und Faden befolgt wurde. Beispielsweise in dem eingangs zitierten Namensgedicht an Michelle Grangaud [140] sind zehn Wortgewichtseinheiten von der Waagschale der dritten in die der zweiten Zeile gerutscht: »arbitraeres116 auge34, [150] / wie37 es24 dich24 macht45 [130]«. Ebenso in dem Gedicht für Marianne Frisch [138], wo das Gleichgewicht zwischen der vierten und der fünften Zeile mit plus/minus 39 aus dem Ruder läuft:

»Tische64? Oder42 Iden32? [138]
Oder42 identische96 [138]
Iden32-Tische64 mit42 [138]
fuenfzehn105 Igel33- und39 [177]
Birnenideen99 [99]
Hasen47 des28 Maerz63! [138]« (GG, 11)

Das Gewicht der Zeilen des am »fuenfzehn[ten]« März 1998 – also in den »Iden« »des Maerz« – verschickten Gedichtes ist, nachdem die Worten einen gematrischen Wandlungsprozess durchlaufen haben, nicht mehr »Iden-Tisch«. Dass die kleinen Gewichtsschwankungen zwischen den Zeilen keineswegs das Ergebnis einer fehlerhaften Berechnung und deshalb bloßer Zufall sind, sondern vielmehr eine »Birnenidee«, die sich im Prozess der Verfahrensaneignung erzeugt hat, sollte uns spätestens mit dem folgenden Ausschnitt aus einem gewichteten Namensgedicht einleuchten, das Pastior am 7. Februar 1998 an Zsuzsanna Gahse [181] schickt:

»du25 bist50 also47 a1) immer58 [181]
das24 hexeneinmaleins157 [181]
seelenkaffeehaus143-hilfe40 [183]
plus68/minus76 b2) magie35 [181]« (GG, 9)

Hier gerät die Gewichtssymmetrie mit plus zwei bei der »seelenkaffeehaus143‑hilfe40 [183]« aus dem Lot, wobei das magische Übergewicht in der folgenden Zeile durch »plus68/minus76 b2) magie35 [181]« rückblickend auf der textuellen Ebene erklärt wird [183 minus b = 181]. Bei diesen geringfügigen Abweichungen handelt es sich um einen »vorsätzlichen Verstoß gegen die Einschränkung« (Lajarrige 1997, 481), um eine Regel gegen die selbst gesetzte Regel, die unter der Bezeichnung clinamen mit Verweis auf den epikureisch-lukrezschen Atomismus seit den 70er Jahren fester Bestandteil des oulipotischen Werkzeugkastens ist (→ Motte 1986). Was Lukrez in seinem Lehrgedicht De rerum natura (1. Jh. v. Chr.) im Anschluss an Epikur als Erweiterung des deterministischen Atomismus Demokrits formulierte, um dem statischen Gleichgewicht ein Moment der Spontaneität einzuschreiben und der Entstehung des Neuen ein Einfallstor zu öffnen, wird im Rahmen der Werkstatt für potentielle Literatur zum poetischen Produktionsprinzip erklärt: Der willentlich herbeigeführte Ausbruch aus der Symmetrie, der Verstoß gegen die Regelhaftigkeit des Verfahrens garantiert, dass der Schreibprozess sich nicht in den immer gleichen Mechanismen reproduziert. Damit wird der »kleine numerische unterschied«, der durch die Überdeterminierung des Verfahrens produziert wird und sich »auf der buchstabenkombinationsschiene als unvorhersehbar« (GG, 22) erweist, zur Bedingung der Möglichkeit für die Entstehung des Neuen und Unvorhergesehenen.

Literatur

— Adrian, Marc: »kurzgefaßte theorie des methodischen inventionismus« (1957), in: Peter Weibel (Hg.): die wiener gruppe / the vienna group, Wien 1997, S. 754–757.

— Bezzel, Chris: »das anagramm macht mir pein«, in: Gerhard Jaschke (Hg.): Freibord. Zeitschrift für Literatur und Kunst 13/65 (1988), S. 5–10.

— Deleuze, Gilles: »Stotterte er …« (frz. 1993), in: Kritik und Klinik, übers. von Joseph Vogl, Frankfurt am Main 2000, S. 145–154.

— Dornseiff, Franz: Das Alphabet in Mystik und Magie, Leipzig, Berlin 21925.

— Lajarrige, Jacques: »Die Poesie und Poetik Oskar Pastiors: ein oulipotisches Schreiben«, in: Akzente 44/5 (1997), S. 477–485.

— Lajarrige, Jacques: »Oulipotische Schreibregel als Kontinuitätsfaktor in der Lyrik Oskar Pastiors«, in: ders. (Hg.): Vom Gedicht zum Zyklus. Vom Zyklus zum Werk. Strategien der Kontinuität in der modernen und zeitgenössischen Lyrik, Innsbruck, München, Wien 2000, S. 285–307.

— Luz, Christine: Technopaignia. Formspiele in der griechischen Dichtung, Leiden, Boston 2010.

— Motte, Warren: »Clinamen Redux«, in: Comparative Literature Studies 23/4 (1986), S. 263–281.

— Pastior, Oskar: »Anagramm, Text«, in: Jalousien aufgemacht. Ein Lesebuch, hg. von Klaus Ramm, München, Wien 1987, S. 115–117.

— Pastior, Oskar: Feiggehege. Liste Schnüre Häufungen, Berlin 1991.

— Pastior, Oskar: Das Unding an sich. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main 1994.

— Pastior, Oskar: Gewichtete Gedichte. Chronologie der Materialien [= GG], hg. von Oswald Egger, Wien, Hombroich 2006.

— Rühm, Gerhard: »nachwort über den ›inventionismus‹« (1980), in: Peter Weibel (Hg.): die wiener gruppe / the vienna group, Wien 1997, S. 760–761.

— Scholl, Sabine: »Das Anagramm – sinngebende Praxis? Zur Verschränkung der Lebens- und Textorganisation bei UNICA ZUERN«, in: Gerhard Jaschke (Hg.): Freibord. Zeitschrift für Literatur und Kunst, 13/65 (1988), S. 61–68.

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Sandro Zanetti (ed.): Improvisation und Invention

Wenn eine Kultur etwas als Erfindung akzeptiert, dann hat dieses Etwas bereits den Status einer Tatsache erhalten, die vorhanden ist und auf ihren Nutzen oder auf ihre Funktion hin befragt werden kann. Was aber geschieht davor? Wie gewinnt das Erfundene Wirklichkeit? Wie in der Kunst, wie im Theater, wie in der Literatur und Musik, wie in der Wissenschaft? Und mit welchen Folgen? Die Beiträge in diesem Band beschäftigen sich alle mit einem Moment oder einem bestimmten Modell der Invention. Ausgehend von den jeweils involvierten Medien wird der Versuch unternommen, diese Momente und Modelle zu rekonstruieren. Um etwas über die entsprechenden Inventionen in Erfahrung bringen zu können, werden diese als Ergebnisse oder Effekte von Improvisationsprozessen begriffen: Improvisationen in dem Sinne, dass von einem grundsätzlich offenen Zukunftsspielraum ausgegangen wird, gleichzeitig aber auch davon, dass es ein Umgebungs- und Verfahrenswissen gibt, das im Einzelfall beschrieben werden kann.

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