Samo Tomšič geht von Sigmund Freuds Diagnose aus, dass der Mensch nicht ›Herr im eigenen Haus‹ ist, sondern durch ein ›Unbewusstes‹ aus umgeleiteten oder unterdrückten Trieben und daraus rührenden Ängsten und Widerständen geleitet wird, also in seinem Handeln, Denken, Fühlen und in seinem Bewusstsein durch eine ›konstitutive Negativität‹ bestimmt ist. Die Etablierung eines ›Ich‹ hat daher für die Psyche die gleiche Funktion wie die Haut für die Physis, insofern das Ichbewusstsein der Ort der Außenrelation und im Grunde eine ›Grenzoberfläche‹ ist. Die Psychoanalyse erschüttert jedoch ›das Haus des Ich‹ bzw. den ›libidinösen oíkos‹. Tomšič erläutert Freuds ›Verräumlichung des psychischen Apparats‹, die eben nicht auf einen euklidischen Raum verweist, sondern – so Jacques Lacan – über die algebraische Topologie und die Knotentheorie zu begreifen ist. Das hautgleiche Oberflächen-Ich ist nicht geschlossen, sondern kennt real wie imaginär Durchbrüche und Durchlöcherungen: Körperöffnungen. Für den sprachlich-symbolisch besetzten und durchdrungenen physiologischen Körper sind Innen und Außen nicht mehr eindeutig zu definieren, sondern nach dem Modell der Klein’schen Flasche strukturiert, d.h. dass Innen und Außen ›überall und nirgendwo lokalisiert werden können‹. Im Rückgang auf Freud formuliert: Das Heim ist stets auch Un-Heim.
Karin Krauthausen (ed.), Rebekka Ladewig (ed.)
Modell Hütte
Von emergenten Strukturen, schützender Haut und gebauter Umwelt
Hardcover, 544 pages
PDF, 544 pages
Die Hütte wird gemeinhin als spontanes und vorläufiges Gebilde verstanden, als eine Improvisation im Außenraum, aus arbiträrem Material gefügt und mit einem klaren Ziel: schnell und mit vorhandenen Mitteln einen abgetrennten Bereich zu konstituieren. So verstanden faltet die Praxis der Hütte den Raum, sie erstellt gewissermaßen eine Tasche oder eine Abteilung in ihm und ermöglicht auf diesem Weg ein relatives Innen in Differenz zu einem Außen. Eine solche temporäre Faltung des Raums kann vielfältige Funktionen haben und etwa als Unterstand, Obdach, Versteck, Lager oder Zuflucht dienen. In jedem Fall wird der Bau nur selten planvoll konstruiert. Die Hütte gründet auf einer kreativen Praxis, die nicht als solche wahrgenommen wird. In der Konsequenz bildet die Hütte keine eigene Kategorie und ist gerade darin beispielhaft: Sie liefert das Modell für die spontane Emergenz von Strukturen, die in der Folge entweder vergehen und damit ephemer bleiben oder aber eine eigene Geschichte in Natur und Kultur begründen. Dieses weit über die Architektur hinausreichende ›Modell Hütte‹ erschließen die geistes- und naturwissenschaftlichen sowie gestalterischen Beiträge des Bandes über eine Vielfalt von Diskursen, u.a. zu Wohnen in the making, Prekäre Räume, Technik des Ephemeren, Kulturelle Urszene, Erweiterte Physiologie sowie Haut und Sein.
Mit Beiträgen von Michel Agier, Emily Brownell, Michael Cuntz, Heike Delitz, Elmgreen & Dragset, Michael Friedman, Finn Geipel & Sabine Hansmann, Ulrike Haß, Inge Hinterwaldner, Tim Ingold, Susanne Jany & Khashayar Razghandi, Stephan Kammer, Joachim Krausse, Karin Krauthausen, Rebekka Ladewig, Stephan Pinkau, Luca Rendina, Kathrin Röggla, Anna Roethe, Samo Tomšič, Felicity Scott, J. Scott Turner.